Startbahn: Die unendliche Verhaftungswelle

■ Willkürliche Verhaftungen und Festnahmen im Rhein–Main–Gebiet / Unter dem Vorwand der Startbahn–Morde schlägt die Bundesanwaltschaft wahllos zu / Verunsicherung in der Szene / Keine detaillierten Angaben des bislang einzigen Tatverdächtigen Eichler

Von Klaus–Peter Klingelschmitt

Frankfurt (taz) - Die Bundesanwaltschaft (BAW) in Karlsruhe feierte die diversen Verhaftungen der letzten Wochen als „Schlag gegen den regionalen Terrorismus“ (Rebmann). Insgesamt elf Haftbefehle hat der zuständige Bundesrichter auf Antrag der BAW bislang erlassen, doch in Sachen Mordfall Startbahn–West scheinen die Fahnder des „SoKo“ trotzdem nicht weitergekommen zu sein. Denn bis auf Andreas Eichler, der von der BAW beschuldigt wird, die beiden Polizisten Eichhöfer und Schwalm ermordet zu haben, und bis auf den noch flüchtigen Frank Hoffmann, dem die Bundesanwaltschaft eine „Mittäterschaft“ vorwirft, sind die anderen neun Personen - die teilweise in U–Haft sitzen, von der U–Haft verschont wurden oder noch nicht festgenommen sind - nicht wegen konkreter Beteiligung an den Morden, sondern wegen der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ respektive der Mittäterschaft an bestimmten Anschlägen auf Strommasten und Einrichtungen an der Startbahn beschuldigt worden. Insgesamt ein Dutzend solcher Anschläge soll die „Gruppe Eichler“, wie die BAW sie nennt, in den letzten beiden Jahren in der Region verübt haben. Im Moment - so BAW–Sprecher Alexander Prechtel - sei die Bundesanwaltschaft dabei zu prüfen, welche der inhaftierten oder haftverschonten Personen bei den einzelnen Anschlägen im Einsatz waren. Für die BAW bestehen „keine Zweifel mehr daran, daß Eichler der Rädelsführer der Gruppe war“, die unter den Titeln „Revolutonäre Zellen“, „Revolutionäre Heimwerker“ oder „Revolutionäre Zähler“ (bei einem Anschlag auf ein Wahllokal in Mörfelden) aufgetreten sein soll. Vorwand für Razzien Von der BAW werden der „Gruppe Eichler“ Männer und Frauen aus Frankfurt, Mörfelden– Walldorf, Rüsselsheim und Wiesbaden zugerechnet. Der Schlag, den die Fahnder des „SoKo“– Startbahn in der ersten Dezemberwoche gegen Startbahngegner und andere Linke aus Rüsselsheim und Umgebung führten und bei dem insgesamt 23 Wohnungen und das Freie Kultur Cafe durchsucht worden waren, war dagegen ein Schlag ins Wasser. Menschen, die seit Jahren mit den sonntäglichen Aktionen an der Startbahn nichts mehr am Hut hatten und sich längst in anderen politischen Zusammenhängen bewegten und schwerlich mit den Ereignissen am 2. November in Verbindung gebracht werden können, wurden - teilweise mit vorgehaltenen Pistolen - aus dem Schlaf gerissen. Hintergrund der Aktion war angeblich die Suche nach Frank Hoffmann, der seit dem 7. November verschwunden ist. Doch in den 23 Wohnungen, die von den Fahndern durchsucht worden waren, fand sich keine Spur des Flüchtigen, wie BAW–Sprecher Prechtel am Tag nach der Fahndungsaktion konstatieren mußte. Daß Frank Hoffmann, der laut BAW von Andreas Eichler beschuldigt worden sein soll, ihm die Tatwaffe - eine Polizeipistole Marke „Sig Saur“ - nach den tödlichen Schüssen auf die Polizeibeamten übergeben zu haben, überhaupt abtauchen konnte, lag an den Fahndern der „Soko“–Startbahn selbst. Trotz vorliegendem Haftbefehl konnte sich Hoffmann noch mindestens einen Tag lang frei in Mörfelden–Walldorf bewegen. Nach den Schüssen an der Startbahn hatte Hoffmann eine Woche lang bei seiner Mutter in Walldorf gelebt, obgleich die SoKo–Beamten seine Wohnung bereits zwei Tage nach der Tat durchsucht hatten. Diese Tatsache hat die Bundesanwaltschaft nicht unwesentlich mit unter Erfolgsdruck gesetzt. Nur Tage später setzte eine Verhaftungswelle ein, die Irritationen in der gesamten Szene des Rhein–Main–Gebiets ausgelöst hat. Was vor der Verhaftungswelle nur eine Befürchtung war, wurde nun zur Gewißheit: Die Bundesanwaltschaft nimmt die Morde an den Polizisten zum Anlaß, die gesamte autonom organisierte Szene aufzumischen. Eines der „Lieblingskinder“ der Bundesanwaltschaft, die „terroristische Vereinigung“ (Paragraph 129a), feierte Auferstehung in einer Zeit, in der in der Bundesrepublik die Amnestiedebatte gerade in Gang gebracht wurde und sich selbst Persönlichkeiten aus dem christlichen Lager differenziert äußerten. So wurde etwa einer der betrof fenen Personen aus Wiesbaden, der sich am 24. November telefonisch beim SoKo–Startbahn gemeldet hatte und um Aufklärung darüber bat, warum er in Verhören des SoKo mit anderen Startbahngegnern als Beschuldigter bezeichnet worden sei, einen Tag später überraschend verhaftet. Zuvor durchsuchten die Beamten, die den Wiesbadener für den Tag der Verhaftung zu einem Gespräch geladen hatten, noch schnell die Wohnung der Eltern und der Verlobten des „Verdächtigen“. Freunde des Verhafteten erklären denn auch in einem in der Szene kursierenden Flugblatt, daß dies wohl der „erste Fall in der Kriminalgeschichte“ sei, daß jemand vor seiner Flucht ausgerechnet dem Landeskriminalamt einen Abschiedsbesuch abstattete. Der Wiesbadener wurde nämlich wegen angeblicher Fluchtgefahr in U–Haft genommen, obgleich er einen festen Wohnsitz hat, über ein festes Einkommen verfügt und sich um eine zweijährige Tochter kümmern muß. In einer ersten Stellungnahme wertet die Rüsselsheimer Szene - von den Grünen über das Frauenzentrum bis hin zu den MitarbeiterInnen des Freien Kulturcafes - die Aktionen der Bundesanwaltschaft denn auch als den Versuch, „unliebsame Personen, Organisa tionen oder Zentren ... einzuschüchtern und zu kriminalisieren: Dafür spricht auch - wie viele der Betroffenen berichtet haben - der krasse Gegensatz zwischen dem massiven Auftreten der Polizei (eingeschlagene Türen und Fenster, gezückte Pistolen, Telefonverbot) und der eher nachlässigen Suche nach möglichen Verstecken einer gesuchten Person.“ Die Unruhe in der Szene wächst, denn nicht wenige fürchten, daß die Bundesanwaltschaft - nach dem Schlag gegen die Szene in der Opelstadt - nun auch in anderen Städten zuschlagen wird. Vorsorglich hat die Startbahn–BI in Frankfurt, Offenbach, Rüsselsheim, Mörfelden–Walldorf und Wiesbaden Aufkleber flächendeckend verteilen lassen: „Keine Aussagen bei den Ermittlungsbehörden.“ Daß derzeit Männer und Frauen aus nahezu allen genannten Städten in U–Haft sitzen, und mehr noch der Umstand, daß einige der mit Haftbefehl festgenommenen Personen wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, hat zur nahezu perfekten Abschottung der Szene nach außen geführt. Vermutungen darüber, ob die haftverschonten Personen sich ihre vorläufige Freiheit mit umfassenden Aussagen erkauft hätten, zeugen von der Verunsicherung innerhalb der Szene. Es sei nur noch eine „Frage der Zeit“, wann in anderen Städten „Wohnungen plattgemacht“ oder Personen festgenommen oder verhaftet würden. In einem Flugblatt der Wiesbadener Startbahngegner wird der Bundesanwaltschaft vorgeworfen, daß sie versuche, „eine ganze soziale Bewegung als terroristische Vereinigung zu verfolgen“. Um ein entsprechendes Klima zu schaffen, habe die Bundesanwaltschaft gezielte Falschinformationen an die Öffentlichkeit weitergegeben. Falsch sei die Behauptung, daß in der Tatnacht über Megaphon der Befehl „Scharfschützen Feuer!“ gegeben worden sei. Eine weitere Lüge der Bundesanwaltschaft sei die Behauptung, daß es sich dabei um die geplante Tat einer Gruppe gehandelt habe. Die Bundesanwaltschaft konzentriert sich derzeit tatsächlich darauf, die gesamte Szene des Rhein–Main–Gebiets auszuheben. Deshalb werden die Ermittlungsergebnisse in Sachen Mordfall Startbahn West zunächst zurückgehalten. So muß jeder der Verhafteten damit rechnen, von den Ermittlungsbehörden mit dem Mord in Verbindung gebracht oder der Zugehörigkeit zu einer „terroristischen Vereinigung“ (BAW) verdächtigt zu werden, auch wenn die Haftbefehle in der Regel auf Mitbeteiligung an Anschlägen auf Strommasten und Einrichtungen an der Startbahn West lauten. Andreas Eichler, der bislang als einziger von der Bundesanwaltschaft beschuldigt wird, der Polizistenmörder von der Startbahn zu sein, hat bis heute kein Geständnis abgelegt. Die Bundesanwaltschaft stützt sich auf die Indizien, die bereits kurz nach der Verhaftung Eichlers in der Nacht nach den Todesschüssen offengelegt worden waren: Die Schmauchspuren am Handschuh Eichlers und die Tatwaffe, die sich im Rucksack des Beschuldigten befunden haben soll. Die einzige, bisher lediglich von der Bundesanwaltschaft behauptete Aussage Eichlers, bezog sich auf den noch flüchtigen Frank Hoffmann. Eichlers soll ausgesagt haben, daß Hoffmann ihm die Waffe nach der Tat übergeben habe. Hoffmann selbst hat dagegen in seinem Brief an die taz jede Mitbeteiligung an den Morden bestritten. Auch Eichlers Anwalt, Wolf Hechler aus Frankfurt, schweigt sich seit sechs Wochen beharrlich aus. Über die jetzt vorliegende allgemeine Erklärung Eichlers hinaus (siehe Dokumentation) gibt es keinerlei Detailinformationen von Seiten des Inhaftierten. Diese Haltung hat - zumindest in der Rüsselheimer Szene - für einigen Unmut gesorgt. Selbst der Teil der Bewegung, der geneigt ist, generell „Freiheit für alle“ zu fordern, wartet auf eine umfassende Erklärung von Andreas Eichler.