Billige Grenzwerte

■ Die Europäische Gemeinschaft hat am Montag die Grenzwerte für den nächsten Atomunfall großzügig erhöht / Kostendenken ersetzt Naturwissenschaften

Von Thomas Scheuer

Abgesehen davon, daß Grenzwerte weder Nuklearunfälle noch Strahlenschäden verhindern, gaukelt allein der Begriff der öffentlichkeit zweierlei vor: Daß nämlich Radioaktivität unterhalb eines bestimmten Grenzwertes gesundheitlich unbedenklich sei und daß diese Schwelle medizinisch oder naturwissenschaftlich exakt ermittelbar sei bzw. berechnet werden kann. Letztere Annahme wird schon durch das Experten– Hick–Hack um die „richtigen“ Grenzwerte ad absurdum geführt. Die sogenannten Grenzwerte, wie die erlaubten Höchstwerte atomarer Verseuchung genannt werden, werden jedoch ganz einfach aufgrund wirtschaftlicher Kriterien ermittelt und festgesetzt. Gesund ist also soviel Radioaktivität, wie Strahlenschutz kosten darf. Die „International Commission on Radiological Protection“ (ICRP), deren Angaben von den meisten der sogenannten Experten einfach übernommen werden, erstellt ihre Kostenrechnung nach dem sogenannten Alara–Prinzip. Dabei spielen zwei Kostenfaktoren eine Rolle. Zum ersten die Kosten für den Strahlenschutz. Es wird berechnet, wieviel die Maßnahmen zur Verminderung der radioaktiven Belastung der Bevölkerung durch verseuchte Nahrungsmittel im atomaren Pannenfall kosten würden. Je größer die Strahlendosis, je höher sind auch die Kosten. Die Brüsseler Eura tom–Experten übernehmen hier - wie üblich - ungeprüft die ICRP– Zahlen. Etwas schwieriger fällt die Ermittlung des Zusammenhanges zwischen Strahlenbelastung und Spätfolgen, sprich Krebs, aus. Die Wirkung niedriger Strahlendosen (und damit die statistische Wahrscheinlichkeit von Krebs) ist nicht meßbar und Massenexperimente mit Millionen von Versuchstieren sind technisch unmöglich. Daher wurden Messungen und Erfahrungen aus Hiroshima und der Röntgenpraxis „extrapoliert“, ddas heißt sie werden rechnerisch weiterverlängert. Die zeichnerische Darstellung zeigt eine Gerade durch den Nullpunkt der Krebs– und der Kostenachse: Null Dosis - null Krebs, je höher die Dosis - je größer die wahrscheinliche Krebsrate. Diese Etappe der Grenzwertfindung ist also die einzige, die ein bißchen nach medizinischer Wissenschaftlichkeit riecht. Im weltweiten Expertenclub schwanken die Resultate dieser Extrapolation allerdings um den Faktor 3, Kritiker nennen gar den Faktor 10 oder mehr. Die Euratom–Experten haben ihren Berechnungen die optimistischsten Angaben der ICRP zugrunde gelegt. Weil es keinen Wert gibt - abgesehen von Null -, unterhalb dessen Atomstrahlung nachgewiesenermaßen keinerlei Effekt hat, wird eine Art Güterabwägung zwischen den Kosten des Strahlenschutzes und voraussichtlichen zu erwartenden Krebserkrankungen vorgenommen. Diese hat mit Wissenschaft gar nichts zu tun, sondern ist eine rein ethisch–politische Kalkulation. Die ICRP, deren Sichtweise die Euratom auch hier übernimmt, hat versucht, sich selbst eine Berechnungsgrundlage zu schaffen, indem sie Krebstote in gesellschaftliche Unkosten umrechnet. Doch ihre primitive ökonomische Logik brachte die „Wissenschaftler“ ins Schleudern. Denn: Wieviel darf ein Krebstoter kosten? Derzeit wird in Expertenkreisen ein Krebstoter zwischen 250.000 und 2.5 Millionen Dollar gehandelt. Die makabre Logik der Umrechnung von Toten in Kosten, einmal angewendet, reduziert das Problem der finalen Grenzwertfindung auf das Niveau der Betriebswirtschaft, 2. Semester: Minimierung der Kosten bei zwei Kostenfaktoren. Nun war der nach diesem „Effektiv–Dosis–Modell“ (so genannt, weil nur Krebstote, nicht aber Erkrankte mitberechnet werden) ermittelte Grenzwert den zuständigen EG–Behörden aber immer noch zu niedrig. Also hat die EG–Kommission ihn schlicht noch mal mit zehn multipliziert. Argumentation: Nach einem Atomunfall würde sich die Bevölkerung nur zu rund zehn Prozent mit radioaktiven Lebensmitteln versorgen. Das Einatmen von kontaminierter Luft oder der Kontakt mit verstrahlten Gebäuden, Böden usw. wurde sowieso ganz ausgeblendet.