Revolte der Ohnmacht im Gaza–Streifen

■ Die jüngsten Auseinandersetzungen im von Israel besetzten Gebiet haben bereits 15 Todesopfer gefordert

Massive Verstärkung der Armee unter Einsatz von scharfer Munition und teilweise Ausgangssperre sind bislang die einzige Antwort der israelischen Besatzungsmacht auf die anhaltende Revolte in den besetzten Gebieten. Die Auseinandersetzungen vor allem im Gaza–Streifen sind Ausdruck der ungeheure

Eine seltsam feierliche Stimmung herrschte gestern in den arabischen Teilen von Jerusalem. Normalerweise, wenn in der Altstadt und in Ostjerusalem gestreikt wird, sind die Straßen leergefegt wie in einer Stadt unter Angriff. Diesmal ist es anders: Seit etwa einer Woche streikt die arabische Bevölkerung von Jerusalem aus Solidarität mit ihren palästinensischen Brüdern in den besetzten Gebieten und aus Protest gegen den Einzug Ariel Sharons ins moslemische Viertel der Altstadt. Die eisernen Fensterläden sind verriegelt, wie immer, aber diesmal versteckt sich die Bevölkerung nicht in ihren Häusern. Die Zahl der Autos und der Fußgänger ist beinahe so groß wie an normalen Geschäftstagen, kleine Gruppen von Jugendlichen, strotzend vor Männlichkeit in ihren hautengen Jeans, flanieren durch die Straßen. Die Männer, die Geschäftsleute, stehen vor ihren geschlossenen Läden, trinken Kaffee, lesen Zeitung. Die Frauen kaufen Obst und Gemüse ein bei den Händlern, die ihre Ware auf dem Bürgersteig ausgebreitet haben. Man gibt sich gelöst, vielleicht sogar triumphierend. Den Kopf kann man hochhalten: „Diesmal haben wir es ihnen gezeigt“, heißt die Botschaft, die in Blicken ausgetauscht wird. In den zwanzig Jahren seit der israelischen Besetzung der Westbank, des Gaza–Streifens und Ostjerusalems sind die Israelis selten so sehr von den Palästinensern in die Defensive gedrängt worden wie in den letzten Wochen. Die Unruhen in den Gebieten beherrschen die Schlagzeilen nicht nur der israelischen und arabischen Zeitungen, der Aufstand in Gaza beschäftigt auch die internationale Presse. Die Unfähigkeit der Israelis, anders als mit militäri scher Gewalt das zivile Leben unter ihrer Kontrolle zu halten, wird in aller Welt bloßgestellt. Der Anschlag per Drachenflieger auf eine israelische Militärbasis am 25. November, bei dem sechs israelische Soldaten getötet wurden, hatte wie eine große Portion Balsam auf das Selbstbewußtsein der Palästinenser gewirkt. Der Mythos der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee war von einem einzigen Kamikazeflieger zerstört worden. In den Wochen danach zeigte sich, daß die Besatzungsmacht nicht nur auf Anschläge solcher Art schlecht vorbereitet war. Angesichts der eskalierenden Demonstrationen in den besetzten Gebieten haben die Israelis offenbar keine andere Antwort als Gewalt gegen Steine, und gegen Flaschen verteidigen sie sich mit scharfer Munition. Bei den Unruhen der letzten Wochen wurden nach offiziellen Angaben 15 Palästinenser getötet, Hunderte verwundet. „Die Zahl der Toten und Verwundeten ist ein Zeichen unseres eigenen Versagens“, meinte gestern ein hoher Offizier. Westliche Regierungen, die Israel scharf kritisiert haben, scheinen diese Meinung zu teilen. Zum „politischen Sieg“ der Palästinenser in der internationalen Öffentlichkeit hat auch die israelische Regierung ihren Teil beigetragen. Während Gaza und die Westbank letzte Woche brannten, war der zuständige Minister, Verteidigungsminister Rabin, in Washington beim Waffeneinkauf, Außenminister Peres, der sich neulich für eine Entmilitarisierung des Gaza–Streifens aussprach, auf Reisen in Brasilien. Zum Zeitpunkt heftigster Auseinandersetzungen also, als die verstärkten Einheiten der israeli schen Armee die Demonstrationen in Gaza unter Kontrolle zu bringen versuchte, „überließen“ die zwei gemäßigten Minister ihren Rivalen Premierminister Shamir und seinem Parteigenossen Sharon das Feld. Shamir behauptet täglich, daß die Unruhen in den Gebieten „nichts Außergewöhnliches“ seien. Sharon ist provokativ in die Altstadt Jerusalems gezogen, um, wie er sagt, „zur Sicherheit der jüdischen Einwohner beizutragen“. Das letzte Mal, als Sharon einen solchen Beitrag zu leisten versuchte, startete er den Libanon– Krieg. Die Zahl der Theorien, wie lange die jetzige Welle von Demonstrationen und Krawallen anhalten wird, ist so groß wie die der Steine, die in den letzten Wochen geworfen wurden. Zyniker unter den Palästinensern in Ostjerusalem sind der Meinung, daß es bald wieder ruhig sein wird. „Den Leuten reicht es schon“, sagt ein arabischer Journalist, „sie haben der Frustration, die sich in den letzten Monaten angestaut hatte, Ausdruck gegeben, in noch einer Woche wird alles wieder vergessen sein. Nichts wird sich geändert haben.“ Israelische Beobachter sind skeptisch. Der überwiegende Teil glaubt nicht, daß alles schon bald wieder beim Alten sein wird. Die Streiks in Ostjerusalem und in einigen Städten auf der Westbank werden direkt von der PLO verordnet, Flugblätter informieren die Geschäftsinhaber, daß sie doch ihre Läden nicht öffnen sollen. Wer sich nicht daran hält, muß mit gewalttätigen Pressionen der PLO rechnen. Falls die Auseinandersetzungen nicht spontan, sondern ebenfalls auf Anweisung der PLO zurückzuführen sind, werden sie kaum vor dem 1.Januar 1988 zu Ende gehen, dem soge nannten Fatah–Tag, Jahrestag der Gründung Arafats eigener PLO– Fraktion. Sollten die Israelis gezielt Überfälle und Vergeltungsaktionen für den Drachenfliegeranschlag vom 25.November ver üben, werden die Palästinenser vermutlich auch ohne Anweisungen von oben ihr neugewonnenes Selbstbewußtsein wieder zur Schau stellen wollen. Während die Palästinenser ihre Optionen überlegen, wächst in Israel die Ratlosigkeit. Inzwischen ist allen klar geworden, daß selbst, wenn die Ruhe in den besetzten Gebieten schon morgen wieder einkehren sollte, es nur eine Ruhe vor dem nächsten Sturm sein wird. Hal Wyner