Affäre verspielt

■ Über neuerliche Zweifel am Selbstmord Barschels

Die vom ZDF publizierten Deutungen des Obduktionsbefundes von Barschel haben im Grunde nur die Drehgeschwindigkeit der bekannten Zirkelschlüsse erhöht: Die Tatumstände in jenem Hotelzimmer mit Badewanne sind für einen Selbstmord zu widersprüchlich, also Mord; sie sind wiederum für einen Mord zu widersprüchlich, also Selbstmord. Solcherlei Widersprüche drängen nicht zur Aufklärung, sondern sind Unterfutter für die Legende. Es ist leicht vorauszusagen, daß querulatorische Kriminologen und Laienpharmakologen ihr Lebens(un)glück mit jenem Zimmer im „Beau Rivage“ verbinden werden, ganz abgesehen davon, daß die legendäre Lübecker Staatsanwaltschaft angekündigt hat, sie werde sich selbst um die Übersetzung des Obduktionsberichtes bemühen. Fest steht jedenfalls, daß der Tod Barschels bei weitem seine Lebensleistung übertrifft, zumindest an Spannung. Überprüfen wir also den Stoff der Legende. Da gibt es die Hinweise auf den Waffenhandel. Aber die im Zusammenhang mit der Barschel–Affäre aufget Legenden, auf die Nachrichtendienste und Versicherungsgesellschaften reinfallen. Schließlich färbt noch die Italiennähe des Tatortes und die Erinnerung an die cadaveri celebri vom Schlage eines Calvi die Geschichte ein. Die Dürftigkeit und die provinzielle Textur der Legende ist nicht zu übersehen. Kriterien? Enzensberger hat in den sechziger Jahren die klassischen Ansprüche an das Verhältnis von Pol des Volkszorns Verhaftungen vornimmt (die dann zu nichts führen) bis die Affäre in Beweisnöten untergeht. Aber das Kieler Verhältnis von Politik und Verbrechen muß die Massen enttäuschen. Ein Ministerpräsident exekutiert stümperhaft den Kampf um den Machterhalt, blamiert sich mit seinen spießigen Sexualphantasien. Hintermänner hat die Affäre eigentlich nicht, n Wo also bleibt die Katharsis einer großen Affäre, wo bleibt die dramatische Darstellung unserer Verhältnisse? Sollen wir uns mit der trüben Evidenz der Barschel–Affäre zufriedengeben, wonach die Presse zurecht entlarvt hat, daß ein egomanischer Staatsdiener sich des Staates bediente? Hat die öffentliche Phantasie hierzulande nicht die Kraft, sich aus dem Bannkreis von Barschels Körper und der Frage nach der Konsumtionsgeschwindigkeit von Pharmaka zu befreien? Warum wird diese Phantasie nicht von der Spannung zwischen dem mondänen Tod und der kleinkarierten Kriminalität der K deswegen so staatstragend, weil das Volk nicht auf der Piazza, sondern an Stammtischen lebt. Es scheint, die Affäre des Jahres wurde verspielt. Klaus Hartung