Barschel doch geselbstmördert?

■ Der jetzt bekanntgewordene Obduktionsbericht stellt die Selbstmordthese in Frage / Wurde tödliches Medikament erst verabreicht, als er schon „willenlos“ war? / Nach wie vor sind zahlreiche Fragen ungeklärt

Von Th. Scheuer/V. Gaserow

Basel/Berlin (taz) - Die Umstände des Todes von Uwe Barschel schlagen am Genfer See weiter Wellen. Am Dienstag abend präsentierten das Schweizerische Fernsehen und das ZDF in identischen Berichten brisante Details aus dem bisher unter Verschluß gehaltenen Obduktionsbericht der Genfer Universität. Entscheidende Aussage der beiden TV–Recherchen: Uwe Barschel starb an einer tödlichen Dosis des bei Selbstmorden sehr gebräuchlichen Schlafmittels Cyklobarbital. Dieses Barbiturat gelangte jedoch erst in seinen Körper, als er nach Meinung des von den Fernseh–Journalisten interviewten Toxikologen Professor Schär schon längst „willenlos“ und handlungsunfähig war. Denn Stunden, bevor er das letztendlich tödliche Medikament schluckte oder eingeflößt bekam, hatte er schon in einem ersten Schub eine starke Dosis von drei anderen Schlaf– und Beruhigungsmitteln genommen. Das geht eindeutig aus dem gerichtsmedizinischen Bericht der Genfer Universität hervor. Die drei zuerst genommenen Medikamente nämlich waren in Barschels Körper schon wesentlich weiter abgebaut als das tödliche Cyklobarbital. Fraglich ist jedoch, ob Barschel schon nach Einnahme der ersten drei Medikamente tatsächlich so „außer Gefecht“ gesetzt war, daß er zu keiner koordinierten Handlung mehr fähig war und daher auch nicht mehr - Stunden später - in einem zweiten Schub das tödliche Mittel nehmen und in die Badewanne steigen konnte. Während der Toxikologe Schär in der Fernsehsendung am Dienstag abend davon sprach, daß ein Mensch mit den drei zuerst genommenen Präparaten im Körper nur noch durch starke äußere Reize aufgeweckt werden und nicht mehr ohne Stütze laufen könne, modifizierte er diese Aussage gestern gegenüber dpa. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur wollte der Mediziner nicht völlig ausschließen, daß Barschel doch noch in der Lage war, das tödliche Cyklobarbital selbst zu schlucken. Auch andere Mediziner halten es für möglich, daß der tablettenabhängige Barschel durchaus nach dem ersten Tablettenschub noch so bei Bewußtsein war, daß er sich eigenhändig den Inhalt eines zusätzlichen Schlafmittelröhrchens einverleibte. Genaue Angaben darüber sind anhand des jetzt bekanntgewordenen Obduktionsbefundes jedoch schwer zu treffen, da die medizinischen Gutach ter genaue Angaben über Barschels Mageninhalt und -volumen unterließen. Ein Vergehen, das von Experten als sehr unüblich bezeichnet wird. Ebenfalls sehr mysteriös ist auch die Tatsache, daß die Genfer Polizei seit Oktober immer wieder betont hatte, beim toten Barschel seien keinerlei Spuren von Gewaltanwendung sichtbar gewesen, obwohl der Obduktionsbericht jetzt gleich auf der ersten Seite von einem frischen 2,5 mal 3 cm großen Bluterguß an der rechten Stirnseite spricht. So bleiben auch nach diesen jüngsten Informationen mehr offene Fragen als Antworten: Warum z.B. hat Barschel - wenn er sich denn selbst töten wollte - nicht zuallererst das stärkste, tödliche Medikament, das Cyklobarbital, genommen? Selbst wenn der enorm gestreßte Barschel nach dem ersten Medikamentenschub noch laufen konnte, war er dann Stunden später zu so rationalen Handlungen in der Lage, wie nach der zweiten Tabletteneinnahme Packung und Röhrchen unauffindbar verschwinden zu lassen, das Wasserglas wieder ausgespült aufs Regal zu stellen und sich dann mit einem Handtuch unter dem Kopf in die Badewanne zu legen? Wie kam Barschel an ein Medikament wie das Schlafmittel Pyrithyldion, das seit fünf Jahren vom europäischen Markt zurückgezogen ist und nur noch in Schweden, Dänemark und der DDR erhältlich ist? Warum hat sich der schon nach dem ersten Tablettenschub reichlich bedröhnte und unter Schlafmittel gesetzte Barschel nicht auf das Bett gelegt, das die Polizei unberührt vorfand? Und warum lief er - wenn er Selbstmordabsichten hatte - die ganze Nacht mit Schuhen im Hotelzimmer herum und zog sie erst aus, als er - wohl kaum noch zurechnungsfähig - in die Badewanne stieg? Und wo ist die ominöse Flasche Beaujolais geblieben, die aus Barschels Zimmer genauso verschwunden ist wie die Tatortfotos der Genfer Polizei, die angeblich nichts geworden sind? So unwahrscheinlich unter diesen Umständen ein Selbstmord erscheint, so fraglich mutet jedoch auch die Mordthese an. Daß Profi– Killer den Ex–Ministerpräsidenten wegen seiner möglichen Verwicklung in ein illegales Waffengeschäft umbrachten, klingt ähnlich unwahrscheinlich wie die These, der zum Tatzeitpunkt in Genf weilende Super–Agent Werner Mauss habe seine Finger im tödlichen Spiel gehabt. Denn beide Tätergruppen hätten als Profis schneller und unbemerkter ans Werk gehen können, als stundenlang auf das Ableben ihres schlafmittelvergifteten Opfers warten zu müssen. Die Genfer Ermittlungsbehörden und die Lübecker Staatsanwaltschaft, die am Dienstag den Obduktionsbericht aus der Schweiz bekam, schwiegen gestern wie gehabt zu diesen Ungereimtheiten. Barschels Witwe Freya dagegen sieht sich durch das medizinische Gutachten darin bestätigt, daß ihr Mann umgebracht wurde. Mit einiger Spannung darf man nun auf einen zweiten Obduktionsbericht warten, an dem die Hamburger Uni–Klinik arbeitet.