„Ich will zu den Stärksten gehören“

■ Die Abgeordnete der Grünen im Europaparlament, Brigitte Heinrich, starb am 29. Dezember an einem Herzinfarkt / Trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit seit ihrer Verhaftung 1974 gab sie ihr aktives politisches Engagement nicht auf

Brigitte Heinrich ist tot. Am Dienstag, dem 29. Dezember starb sie um halbelf Uhr morgens in ihrer Frankfurter Wohnung an einem Herzinfarkt. Einen Tag zuvor war sie noch bei ihrem langjährigen Hausarzt gewesen, um sich wegen akuter Magenschmerzen untersuchen zu lassen. Für die Jahreswende hatte sie noch Reisepläne. Brigitte Heinrichs Tod kam plötzlich; unfaßbar war die Nachricht für Freunde und Verwandte. Niemand wollte es glauben. Viele hatten sie „gerade eben“ noch gesehen, sich fürs neue Jahr mit ihr verabredet. Brigitte selbst wollte im Januar 88 dem Europaparlament, dem sie seit Frühjahr 1984 als Mitglied der „Regenbogenfraktion“ angehörte, eine Entschließung vorlegen, die nach vielerlei Bemühungen eine große Merhrheit gefunden hätte und wohl auch finden wird: die Forderung einer Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Drütte bei Salzgitter. Brigitte Heinrich hatte sich im Laufe der letzten drei Jahre in den Sälen, Gängen und politischen Sackgassen des Straßburger Europaparlaments zurechtgefunden, zugleich auch einen Weg entdeckt, auch dort noch linke Politik zu betreiben, wo allein der bürokratische Wahnsinn zu herrschen scheint. Sie nutzte die Kontakt- und Reisemöglichkeiten eines „MdEP“ für „ihre“ politischen Zwecke, etwa den Kampf gegen das rassistische Südafrika, betrieb mit ihrer antiimperialistischen Überzeugung eine kleine europäische „Nebenaußenpolitik“. Dabei ergaben sich nicht selten Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit der „Soizalistischen Fraktion“, auch mit einzelnen Abgeordneten, wie zum Beispiel mit Katharina Focke, Ex- Ministerin der SPD in Bonn und spätere „Ausländerbeauftragte“ des Bundes.

Dennoch war sie alles andere als eine Parlamentarierin. Mit ihren 46 Jahren strahlte sie immer noch jene entschlossene Unruhe aus, die der Revolte gegen bestehende Verhältnisse entspringt, auch wenn sie sich immer wieder als übermächtig zu erweisen scheinen. Als sie 1969 ihr Examen an der Frankfurter Universität machte, war die Diplom-Volkswirtin Brigitte Heinrich schon Pressereferentin im Bundesvorstand des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) gewesen. 1970 besuchte sie Jordanien, im Jahr des Massakers an tausenden Palästinenser. Danach schrieb sie: „Was wir wissen und was wir wollen, müssen wir aus dem Intellektuellenghetto befreien, sonst haben wir keine Chance.“ Sie verfaßte Artikel im Kursbuch, in der Voltaire-Flugschrift, Bücher über den „D-Mark- Imperialismus“, den folternden „NATO- Partner Türkei“, die Öl-“Krise“ des imperialistischen Systems und seine „Auswirkungen im Innern: Am Beispiel Angela Davis“. Sie war Redakteurin der Frankfurter Studentenzeitung diskurs und Korrespondentin von Liberation. Im Winter 1973/74 nahm sie einen Lehrauftrag für „Internationale Beziehungen“ im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften wahr.

Am 26. November 1974 wurde sie im Rahmen der Fandungsaktion „Winterreise“ festgenommen und fünf Monate lang in Untersuchungshaft gehalten. Aufgrund der Aussage eines dubiosen Zeugen, den das BKA später selbst fallen ließ, warf man ihr die Mitgliedschaft in einer „kriminellen Vereinigung“ vor. Die Aktion war ein „Wasserschlag“ für die Fahnder – alle 17 Verhafteten wurden wieder freigelassen –, doch für Brigitte war die fünfmonatige Isolationshaft ein in jeder Hinsicht prägendes Erlebnis. Sie erkrankte schwer und wurde kurz vor ihrer Freilassung ins Hamburger Gefängniskrankenhaus gebracht. Ihre Gesundheit war seitdem angeschlagen. Obwohl alle Beschuldigungen in sich zusammengebrochen waren, hob man den Haftbefehl nicht auf, sondern suchte nach neuen Begründungen. Seit 1971, als sie schon einmal drei Wochen unrechtmäßig in Haft ge nommen wurde, für die sie später eine „Entschädigung“ erhielt, waren Observationen ihrer Wohnung, ihres Telefons und ihrer Reisen an der Tagesordnung. BKA, Verfassungsschutz und Staatsschutz schrieben die Geschichten, die Legende wurden. Brigitte lebte mit der ständigen Bedrohung, den endlosen Schikanen. Über Jahre mußte sie sich wöchentlich bei der Polizei melden. Inzwischen war sie Mitglied des Studentenparlaments der Universität geworden, dessen Präsidentin sie bis 1982 blieb.

Ihre Fraktion, die „Sozialistische Hochschulinitiative“ (SHI: Spontis), war die tragende Säule jenes Minimum an Solidarität, das sie brauchte, als ein neugestalterter Haftbefehl mit neuen Zeugen präsentiert wurde: „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ und „Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz“. Laut Anklage vom 4. Oktober 1979 sollte sie in der Schweiz gestohlene Handgranaten und Tretminen Ende 1973 in die Bundesrepublik gebracht haben. Der Skandal-Prozeß vor der Staatsschutz kammer des Karlsruher Landgerichts wurde zum Anschauungsunterricht über die Dehnbarkeit des bürgerlichen Rechts, wenn es gegen vermeintliche „Terroristen“ geht. Kein Zeuge der Anklage wurde in der mündlichen Verhandlung vernommen; dafür verhaftete man kurzerhand einen Entlastungszeugen, dem zuvor vom Gericht freies Geleit zugesichert worden war.

Im Urteilsspruch ließ man die „kriminelle Vereinigung“ schließlich fallen und erkannte auf 21 Monate Haft ohne Bewährung wegen des zweiten Anklagepunktes. Über ein Jahr später, am 7. Oktober 1981, wurde die Revision verworfen, und Brigitte mußte die Haft antreten: nach Antritt der U- Haft insgesamt ein knappes Jahr, den größten Teil als „Freigängerin“, acht Jahre nach der konstruierten Tat, die auch bedeuteten: acht Jahre Haftbefehl.

Schon damals arbeitete Brigitte für die taz, nach ihrer Entlassung dann als Auslandsredakteurin in Berlin.

1984 zog sie über die Landesliste der hessischen Grünen ins Europaparlament ein, wo sie – inmitten neuerlicher Umstellung und Hektik – einen Platz zum Leben und Arbeiten fand, Ruhe in der Unruhe.

Brigitte Heinrich war eine Frau, die eine seltene Kontinuität politischen Engagements verkörperte und dennoch nichts Dogmatisches an sich hatte. Gleichwohl hatten Freunde zuweilen den Eindruck, daß ihr die achtziger Jahre mit ihrer aufpolierten Endzeitstimmung noch weniger geheuer waren als anderen Linksradikalen, die sich leichter taten mit dem „Paradigmawechsel“, den postmodernen Zeiten.

In ihrem Tagebuch der Haft 1974/75 schrieb sie: „Einer schrieb mir einen Spruch von Brecht, ja, so was brauche ich jetzt: Die Starken kämpfen eine Stunde lang. Die noch Stärkeren kämpfen viele Jahre. Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Das häng ich mir an die Wand. Ich will zu den Stärksten gehören.“ Die Trauerfeier findet am Mittwoch, den 6. Januar um 13 Uhr 30 in der Trauerhalle des Frankfurter Hauptfriedhofs statt.