Windscale–Knaller verpufft?

■ Mehr und mehr Fakten werden über den Reaktorbrand im AKW Windscale von 1957 bekannt / Verseuchte Milch trotz Verkaufsverbot verkauft / Kritischer Untersuchungsbericht aus politischem Kalkül verhindert

Aus London Rolf Paasch

Der Ausbruch der Empörung fand nicht statt. Ohne große Eruptionen hat die britische Öffentlichkeit den Windscale–Neujahrsknaller zur Kenntnis genommen. Die allgemeine Feiertagsruhe tat ein übriges. Zusätzlich zum Vertuschungskandal durch die Macmillan–Regierung vor 30 Jahren (siehe taz vom 2.1.) sind jetzt weitere Fakten über das geheime Katastrophen–Handling bekannt geworden. Jetzt veröffentlichte Geheimpapiere über das Reaktorfeuer von 1957 in der britischen Atomanlage von Windscale, heute Sellafield, bestätigen jahrelang gehegte Befürchtungen: Noch Tage, nachdem ein offizielles Verkaufsverbot verhängt worden war, war radioaktiv verseuchte Milch in der Umgebung der Atomanlage erhältlich. Ein kritischer Untersuchungsbericht über den Reaktorbrand wurde vom damaligen Premierminister Harold Macmillan aus politischem Kalkül unterdrückt. Und selbst die Queen tappte 1956 bei der Einweihung des ersten „zivilen“ Atomkraftwerks im atomaren Dunkeln. Ein bisher geheimes Memorandum des „Medical Research Council“ zeigt, daß noch zehn Tage nach dem Reaktorfeuer, das vom 10. bis zum 12.Oktober 1957 in dem militärischen Versuchsreaktor „Pile 1“ gewütet hatte, Milch käuflich war, deren Gehalt an radioaktivem Jod 131 bis um das Dreifache über den am 15.Oktober verfügten Grenzwerten lag. Um die Öffentlichkeit zu beruhigen, hatten die Behörden damals in einem Umkreis von 500 Quadratkilometern die Vernichtung von mehr als zwei Millionen Litern Milch angeordnet. Trotz dieser Maßnahme haben sämtliche seitdem durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen ergeben, daß die Leukämierate unter Kindern in der Umgebung von Windscale um das Zehnfache über den nationalen Durchschnittswerten liegt. Fortsetzung Seite 1 Kommentar Seite 4