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„Ganz gewöhnliche Franzosen“

■ Marseille ist die Hochburg von Jean-Marie Le Pens rassistischer Partei / Anne Tristan lebte ein halbes Jahr „ganz unten“ – unter den Anhängern der Front in den Arbeitervierteln im Norden der Stadt / Die Opfer der Krise fühlen sich von der Linken im Stich gelassen

Das 15. Arrondissement ist das Arbeiterviertel Marseilles. Hier leben die Ausgeschlossenen und die Opfer der Krise. Und hier erhält die rassistische „Front National“ regelmäßig 25 Prozent der Stimmen. Weshalb? Anne Tristan ist eine junge Journalistin aus Paris. Sechs Monate lebte sie a la Wallraff in den nördlichen Vierteln Marseilles zusammen mit den Anhängern der Front. Über ihre Erlebnisse, über Armut, Verzweiflung, Freundschaft und Haß schrieb sie ein Buch, das in Frankreich Aufsehen erregt hat (“Au Front“, erschienen bei Gallimard). In einem Interview mit der Zeitschrift Politis (Nr. 1, 9.10.1987) schildert sie ihre Reise ins Innere eines nicht allein französischen Phänomens: „Alle meine Klischees wurden zerschlagen.

„Politis: Wieso sind Sie in Marseille zur „Front National“ gegangen?

Anne Tristan: Zuerst hatte ich gar nichts verstanden. Wie konnte die Nationale Front, ein Grüppchen aus den siebziger Jahren, mit ihrem eindeutig rechtsextremen Profil und ihren Foltersehnsüchten, wie konnte diese Organisation in der öffentlichen Meinung mit solcher Kraft und Geschwindigkeit steigen? Dieses Unverständnis wurde für mich immer schmerzhafter. Aus welcher mysteriösen Zusammenwirkung heraus konnten diese oder jene meiner Zeitgenossen, meiner Nachbarn, meiner Kollegen entschlossene Partisanen der Ausgrenzung, des Ausländerhasses, des Rassismus werden?

Ich mußte es wissen! Deshalb bin ich hingegangen, um es selbst zu sehen. Ich dachte, daß es nicht genügen würde, die Leute zu fragen, warum sie Le Pen wählten. Daher meine Idee, wie seine Wähler zu leben, so direkt wie möglich, um zu versuchen, die Wurzeln des Phänomens zu verstehen. Ich suchte nicht nach einer Enthüllung krimineller Realität, des Schmuggels oder ich weiß nicht welcher Skandale unter den Anführern der Front. Mein Buch nimmt eine traurige Banalität wahr, wie nämlich ein Prozeß der Ausgrenzung beginnt und abläuft.

Und wie kehrt man auf der persönlichen Ebene zurück?

Die affektive Durchdringung nach sechs in der Front verbrachten Monaten machte mich, nachdem ich Marseille verlassen hatte, unfähig, eine klare Idee zu formulieren. In den Nord-Vierteln ist es wie an einem feindlichen Ende der Welt. Ein wahrhaftes Ghetto, aus dem man niemals herauskommt. Ich lebte mit den Benachteiligtsten, man war zusammen in der Scheiße. Diese schwierigen Bedingungen waren Quelle von Freundschaft, von natürlicher Solidarität. Diese Reflexe der Solidarität nun, sozusagen des Überlebens, teilte ich nicht nur mit den Aktivisten der Front. So kam es, daß ich manchmal Angst hatte, während dieser Zeit selbst „infiziert“ zu werden. Im übrigen hatte ich, als ich sie verließ, das Gefühlt, sie im Stich zu lassen. Die ganze Welt hatte sie im Stich gelassen, die Pfarrer, die Gewerkschaften, die Sozialisten, die Kommunisten... jetzt ich! Und wer blieb? Die Front. Ich hatte inzwischen Zeit, meine Gedanken wieder zu ordnen. Es ist nötig, daß ich bis auf den Grund dringe. Um das, was ich auf der gefühlsmäßigen Ebene erlebte mitzuteilen und um es zu einem Element der Remobilisierung zu machen. Gegen die Front.

Ich ging zu der Front mit meinem Bild einer Partei der Super- Spießer, der Rowdies und der Verbitterten. Ich verkleidete mich dementsprechend in ein altes abweisendes Mädchen. Ich vertauschte die Jeans mit dem kleinen, zu engen Kleid. Ich bereitete mich vor, eine zusammenhängende nationalistische Rede halten zu können, um den Wert meines Engagements unter Beweis zu stellen.

Sie gingen nach Marseille als alleinstehende Arbeitslose. Doch dort, an dem Ort der ständigen Präsenz der Nationalen Front, unter ihren Anhängern, mit welchen Sie nichts gemeinsam haben, zeigte sich Ihnen die Wirklichkeit ganz anders, als Sie vermutet hatten.

Alle meine Klischees wurden zerschlagen. An Stelle des militärischen Grüppchens fand ich ganz gewöhnliche Franzosen, eine Massenbewegung, in der alle sozialen Profile vertreten sind. Die Einzelnen waren weit davon entfernt, außergewöhnlich militant zu sein. Im Gegenteil. Was sie aber tatsächlich miteinander verband, die Netze, die sie in dem Viertel bildeten, wie ihr Zusammenleben funktionierte, das alles war schnell zu überblicken. Diese Militanten manipulierten keinen Teil der öffentlichen Meinung, sie waren schlicht und einfach bis zur Karikatur repräsentativ für eine gängige Ausländerfeindlichkeit, die sich unserer Gesellschaft bemächtigt hat.

Alle militanten oder einfachen Anhänger der Front, mit denen ich in Berührung kam, repräsentierten dieselbe Charakteristik: Es sind Verlorene, Ausgeschlossene, Opfer der Krise. Ihr Lebensschmerz erstickt sie. Folglich versuchen sie zu revoltieren oder zumindest ein Stückchen Hoffnung zu erahnen, ein Stück Traum. Und um diesem Willen zur Revolte eine Gestalt zu verleihen, um die Gründe ihrer tausend täglichen Probleme zu erklären, suchen sie nach einem Prügelknaben. Die Front bietet ihnen diesen frei Haus: Es ist der andere, der leicht gebräunte Nachbar, der Fremde.

Es sind die Verlierer, die sich der Front anschließen?

Alle, die man fallen gelassen hat. Verzweifelt und tief unglücklich. Alle ihre Phantasmen, all ihre Besessenheit, alle ihre Verirrungen erklären sich so, wenn sie auch nicht zu entschuldigen sind. Das ist es, was ich im Kontakt mit ihnen lernte. In einem anderen Zusammenhang hätte ich mich sogar mit einigen von ihnen anfreunden können. Ihre Partei-Aktivitäten bestanden meist darin, Netze des Zusammenlebens zu organisieren, Feten zu machen, sich gegenseitig zu helfen. Sie funktionieren wie eine Familie, mit dem dringenden Bedürfnis sich zusammenzufinden, um die täglichen Ärgernisse zu vergessen.

Die Heruntergekommenheit der Lebensbedingungen in den Vororten – in Marseille und anderswo – ist inzwischen soweit fortgeschritten, daß sich die täglichen Probleme als solche des Überlebens stellen. Man kommt schnell an den Punkt, wo man Gefangener dieses Ghettos ist. Sucht man zum Beispiel eine Arbeit, ist die erste Frage, die Ihnen der Arbeitgeber stellt, ob Sie ein Auto besitzen. Man wird Sie nicht einstellen, wenn Sie keinen Wagen haben, denn man weiß, daß Sie das Viertel anders nicht verlassen können. Es gibt keine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Die Hoffnungslosigkeit ist in dem Viertel tief verwurzelt. Die Front braucht nicht mehr zu tun, als all diese Hoffnungslosigkeit in ihre Netze zu ziehen. Denn sie ist es, die hier die einzige politische Ausdrucksmöglichkeit bietet.

Der Fehler liegt zuerst bei der linken Regierung. Ihre Politik wurde in den untersten Bevölkerungsschichten bei denen, die von der Krise am stärksten gebeutelt wurden, als das Ende der letzten Hoffnungen verstanden: Sie denken, daß alle sie belogen und im Stich gelassen haben, die Linken nach den Rechten. In diesen Vierteln gibt es nicht die geringste physische Präsenz von Vertretern linker Werte; weder Parteien, Gewerkschaften noch Vereine. Sogar die Katholiken sind ausgerissen.

Trafen Sie nicht trotzdem Linke – jemanden, der Flugblätter verteilte, ein Plakat, eine Vereinigung – während dieser ganzen sechs Monate?

Nein, kein einziges Mal. Gerade das ist das Schmerzhafteste. Unter diesen vom Unglück zermalmten Menschen trifft man nur diejenigen, die ihnen die Ausgrenzung anbieten. Die Anführer der Front wissen bestens mit dieser Verwahrlosung zu spielen. Man zählt in diesen Vierteln fünf Vertreter der Front auf einen der Sozialisten. So hat Le Pen ein feines Spiel, den direkten Kontakt mit dem Volke für sich zu behaupten. Es ist ihm ein leichtes, sich als Ausdruck der Wünsche der Nation zu bezeichnen. Niemand sonst macht es ihm streitig.

Sind die Führer der Linken nicht der Meinung, daß die Auseinandersetzungen in diesen Vierteln und zudem auf ideologischer Ebene aus wahltaktischen Gründen ungünstig wären?

Das ist ganz klar. Genau das erlaubte die Banalisierung der Diskussion Le Pen. Aber beginnt man nicht bereits innerhalb der Linken, ohne es sich einzugestehen, Wahrheiten in dessen Gedankengut zu entdecken? Haben nicht viele führende Linke anerkannt, daß die Einwanderung trotz allem ein Problem darstellt? Warum geht man die Probleme ständig von dieser Seite an? Warum trifft man immer weniger Leute in den Kneipen oder Geschäften, die das Gegenteil von dem zu sagen wagen, was die Front vertritt?

Schon vor zehn Jahren waren diejenigen, mit denen Sie nun zusammenlebten, Verlorene in diesem Universum von Beton und Anonymität. Aber trotzdem waren es stark kommunistische Zonen.

Manche sagen sogar: Zuvor gab es die Volksfront, jetzt gibt es die „Front“. Für sie ist es dasselbe, es repräsentiert die selbe Hoffnung.

Bemerken Sie direkte Übergänge von der Linken, insbesondere von der Kommunistischen Partei (KPF), zur Front?

Nein. Es gibt niemanden, der behauptete „ich bin Kommunist gewesen“. Die Schlagkraft der Front kommt in dieser Bewegung von Leuten, die keine Vergangenheit politischer Verantwortung haben. Sie sind von ihrem Selbstverständnis her politische Opposition, zu Revoltierenden gemachte Nichtwähler. Unter starker Präsenz der KPF würde diese Bewegung bei den Kommunisten landen. Heute ist es die Front, die ihren Lebensschmerz am besten ausdrückt. Die Basis der Front hat den Eindruck, Führer gefunden zu haben, die sagen, was sie selbst denken. Aber damit übernehmen sie nicht gleichzeitig alle Positionen der Chefs. Man findet viele Einschränkungen, die Leute wiederholen „wir sind nicht rassistisch“, und sie sagen das nicht aus Machiavellismus. Sie wollen wirklich nicht als Rassisten angesehen werden, sie wollen es nicht sein. Ich bin überzeugt davon, wenn man ihnen die tatsächliche Ideologie Le Pens vorstellen würde, mit Bürgerkrieg als der letzten Konsequenz, würden viele schaudern. Sie selbst sind erschreckt von einigen Ausuferungen wie den Nazigesängen oder den Greiftrupps. Der Ausdruck „faut pas exagerer, man solls nicht übertreiben, kommt ständig, vor allem aus dem Mund der Frauen, die, trotz der Front, die Bewahrerinnen des Lebens ihrer Kinder bleiben.

Die Erfolge der Front sind also keineswegs unwiderruflich?

Es ist kein unbedingtes Verhängnis. Unter der Bedingung, daß die Linke das Feld zurückerobert.

Wären denn Reden und erzieherische Aktivität ausreichend, wenn nicht außerdem eine Änderung ihrer Bedingungen, ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage, stattfände?

Es gibt sicher Berge von Problemen. Ich will aber auf einem Punkt bestehen: Die offensive Diskussion, Trägerin von Veränderung und Hoffnung, ist von der Linken aufgegeben worden. Und angesichts Le Pens hat dieser Rückzug einen Verlust der Reflexe nach sich gezogen. Als er am 4. April nach Marseille ging, konnten die Antirassisten nicht mehr als 100 Leute organisieren, was mit Sicherheit nicht repräsentativ für das in der Stadt vorhandene Potential ist. Die erste Arbeit ist es, „Nein!“ zu sagen. Und es in den Vierteln wissen zu lassen. Zumindest – und es wird Ihnen komisch vorkommen, daß ich das sage – habe ich weniger Aggressionen gegen Roland, Allessandro, Veronique und die anderen Aktivisten, mit denen ich zusammen kam, als gegen all diejenigen, die das geschehen lassen, durch Blindheit oder aus kleinem politischen Kalkül heraus.

Die Front wächst an. Dies bringt der Partei durchaus Probleme. Es ist geradezu so, daß es zwei „Fronten“ gibt.

In Marseille ist die Front das perfekte Abbild der sozialen Wirklichkeit der Stadt, alle beruflichen Sparten sind vertreten, wenn man auch mehr Polizisten als anderswo findet. Die Resonanz, die Themen wie Ausgrenzung und Ausländerhaß bei den unteren Bevölkerungsschichten haben, geben ihr den Charakter einer Volksbewegung. Die nationalen Instanzen wissen das Gefühl des Lebensschmerzes bewundernswert auszubeuten und zu einer rohen Revolte gegen den Staat irrezuleiten. Aber es ist wahr, daß die Front von Widersprüchen durchzogen ist. Die sozialen Rivalitäten zwischen Armen und Reichen, Bourgeois und Prolos, sind sehr heftig. Man will einen wahren Klassenkampf zwischen „denjenigen, die mit den Fingern essen“, und den anderen. Ausgrenzung funktioniert aber auch innerhalb der Front. Man mißtraut demjenigen, der nicht aus derselben Familie stammt, dem gleichen Klan, dem gleichen Viertel. Und vor allem hält man Abstand zu den Abgeordneten. Ich hörte des öfteren den Gedanken: „Die sind wie alle anderen, kommen um uns abzukassieren.“ Nur diejenigen, die ein gewisses Charisma besitzen wie Le Pen oder Arrighi, der Chef der Front im Departement, können sich dem entziehen.

In der Front trifft man Mediziner, Rechtsanwälte, Unternehmer und auch Freiberufliche. Aber in Marseille hatte ich nicht wie in anderen Orten den Eindruck, daß die Bourgeoisie zu Le Pen ginge. Es gibt keine – noch keine – unmittelbare faschistische Gefahr wie während der dreißiger Jahre in Deutschland oder im Italien Mussolinis. Allerdings arbeiten inzwischen bereits einige Teile der Bourgeoisie an dem großen Rahmen der Front und versuchen, das weite Feld des Lebensschmerzes für die Front zu erschließen.

Gefährlicher allerdings als die Front selbst ist die Wucht des Zuges, auf den sie aufspringt. Die Front ist nur der sichtbare Teil des Eisberges. Darunter besteht eine vollständige Bewegung, die denkt, keinen anderen Ausweg zu haben, als die Ausgrenzung. Wohin wird das, nach den Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr, führen?

Ich habe an einer Demonstration teilgenommen, die in einer Schlägerei mündete. Eines abends saß ich in einem Auto, das auf einen isolierten Araber zuraste, um ihm Angst zu machen. Es waren nur Leute des Viertels in dem Wagen. Im letzten Moment hatte der Fahrer den Araber verfehlt. Wäre er etwas aufgeregter gewesen oder hätte er nur ein Glas mehr getrunken, hätte er ihn unbedingt töten können. Von rassistischer Prahlerei zur kriminellen Tat ist kein weiter Weg. Die Morde und die Aggressionen, die in Nizza stattfanden, in Chateauroux oder in Val dOise erinnern daran.

Diese „ungewöhnliche“ rassistische Besessenheit, wie Sie selbst sie bewerten, haftet sich normalerweise an Araber.

Es läßt sich aber ebenfalls ein starker antisemitischer Beigeschmack bemerken. Mehr als man glaubt. Der gängige Antisemitismus ist in Frankreich nicht mit dem Kriege verschwunden. Er ist nach wie vor im Herzen des Volkes vorhanden, verankert in dem Wahnbild des Juden, der das Gold besitzt. Dieser Antisemitismus schwelt heute im Schutze des Prozesses der Ausgrenzung.

Jetzt, da Sie die Wurzeln kennen, welche Prognose machen Sie für die Zukunft?

Ich weiß nicht, ob Le Pen all diese Hoffnungslosen bis an das Ziel der Logik der Ausgrenzung irreleiten wird, die Araber ins Meer und die Juden in den Ofen. Das was ich kennenlernte, wogegen ich kämpfen will und was mein Buch beschreibt, ist der Boden auf dem diese abscheuliche Dynamik sich entfesselt.

Anne Tristan, „Au Front“, Verlag Gallimard, Paris

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