Grenzen auf, Grenzen zu

■ Zum Reisen vom Osten in den Westen

Wenn Sowjetbürger ohne lange Wartezeiten in andere sozialistische Länder und DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters in den Westen reisen dürfen, ist immerhin ein Anfang gemacht. Anlaß zu Hoffnungen gibt auch die Entwicklung in Polen und in Ungarn. Dort werden bald Reisepässe zur mehrmaligen Nutzung ausgegeben und der Visazwang in Ungarn ist abgeschafft. Das müßte in den anderen Ländern eigentlich auch möglich sein.

Tatsächlich gibt die Entwicklung in der Sowjetunion solchen Hoffnungen weiteren Auftrieb. Denn die Politik der Perestroika ist zukünftig noch weit mehr als heute auf einen freieren Austausch von Waren, Informationen und Menschen angewiesen. Die in der UdSSR angepeilte Modernisierung des Straßen- und Schienennetzes in Richtung Mitteleuropa und Berlin wäre ohne eine Lockerung der Reisebestimmungen eine Fehlinvestition. Endlich selbstverständlicher Teil der (industrialisierten) modernen Welt zu sein, braucht für die Menschen jenseits der Grenze in absehbarer Zeit nicht mehr ein unerfüllter Wunschtraum zu bleiben.

Doch schon jetzt vergällen Wermutstropfen solche Träume. Denn im Westen werden die Vorboten eines ungehinderten Reiseverkehrs mißtrauisch beäugt. Die Angst vor einer neuen „Immigrantenflut“ läßt westliche Appelle für die Öffnung der Grenzen zunehmend leiser werden. Schon zieht die Bundesregierung Gespräche über die Aufhebung des Visazwangs mit Ungarn in die Länge. Italienische und auch französische Regierungsstellen wollen von den östlichen Brüdern im „Gemeinsamen Hause Europa“ (Gorbatschow) offensichtlich wenig wissen. Das muß zu denken geben. Wenn der Osten seine Grenzen langsam öffnet und endlich die Lage der Menschen dort zu normalisieren beginnt, dürfen im Westen nicht neue Hürden aufgebaut werden. Erich Rathfelder