Scharfe Kritik an UdSSR-Wirtschaftspolitik

Wachstumsideologie und –mentalität in der Sowjetunion ignoriere Konsumbedürfnisse / Wirtschaftwissenschaftler Seljanin: Wirtschaft muß dienende Funktion für den Menschen haben / Durch „ehrgeizige“ Wachstumsziele seien die Resourcen in Sibirien fast erschöpft  ■ Aus Moskau Alice Meyer

Fünf Tage nach Inkrafttreten des sowjetischen „Gesetzes über das staatliche Unternehmen“ hat die Zeitung Sozialistitscheskaja Industrija in ihrer Ausgabe vom 5. Januar 88 eine polemische Generalabrechnung mit dem neuen Wachstumskurs der Wirtschafts- und Parteiführung veröffentlicht. Auch der führende Wirschaftswissenschaftler Abel Aganblejan, Berater des Politbüros in ökonomischen Fragen, wird angegriffen. „Niederschmetternd“, so der Verfasser des Beitrags, Wassili Seljunin, sei für ihn „ die herrschende These, das Nationaleinkommen der Sowjetunion müsse jährlich um mindestens vier, besser nocht fünf Prozent wachsen.“

Der Hauptvorwurf des Kritikers bezieht sich darauf, daß das sowjetische Volk vom Wachstum des Volkseinkommens bisher nichts gehabt und auch künftig nichts zu erwarten habe. Der Anteil von Konsumgütern an der Industrieproduktion sei in der Sowjetunion unablässig gefallen: von 60,5 Prozent 1928 über 39 Prozent im Jahre 1940 und 27,5 Prozent 1960 auf ganze 24,7 Prozent im Jahre 1986. Der Wirtschaftsfachmann urteilt mit Bitterkeit, daß auch in der sowjetischen „Friedenswirtschaft“ nach 1945 eine „kolossale Verschiebung der Güterstruktur zugunsten der Produktionsmittelerzeugung stattgefunden“ habe.

Seljunin fordert einen Abschied von der Wachstumsideologie im Sowjetland – der sich aufblähende Investitionssektor häufe keine Reichtümer mehr an – und einen radikalen Strukturwandel in der Wirschaft. Diese müsse umgestellt werden „von der Arbeit für sich selbst“ auf dienende Funktionen gegenüber den Menschen und ihren Bedürfnissen. „Der Mensch – das ist kein Faktor, keine Re serve und keine Ressource, sondern das letztendliche Ziel der Wirtschaft, das ist die Sonne, um die sich die Wirtschaft zu drehen hat.“

Kategorisch meint der Wirtschaftswissenschaftler, der Umbau der Sowjetökonomie zu einer konsumnäheren, menschenfreundlicheren Wirtschaft sei mit den ehrgeizigen Wachstumszielen unvereinbar. „Unser Land“, so führt Seljunin aus, „hat alle übrigen der Erde weit überflügelt in der Produktion von Metall, Traktoren, Mähdreschern, in der Förderung von Brennstoffen, im Umfang des Werkzeugmaschinenparks und trotzdem herrscht an allen Ecken und Enden Mangel“. Grenzen des zügellosen Wachstums existieren nicht, weil es keinen Marktmechanismus und – der Wirschaftsfachmann äußert unverhohlen Bedauern – keine Überproduktionskrisen gebe. In den letzten 14 Jahren seien in der Sowjetunion ebensoviele fossile Brennstoffe gefördert worden, wie in der gesamten Geschichte Russlands und der Sowjetunion davor, die Lagerstätten West-Sibiriens, noch vor 25 Jahren als schier unerschöpfliche Schatzkammern von Roh- und Brennstoffen für viele Generationen gefeiert, stehen, so Seljunin, bereits jetzt vor der Erschöpfung.

Einen weiteren Grund, warum der von Gorbatschow und dem Politbüro gefeierten „allseitigen Beschleunigung der Wirtschaft“ der Atem auszugehen droht, sieht der Kritiker darin, daß das Anwachsen der Geldlöhne bei gleichzeitigem Zurückbleiben der Konsumgüterproduktion dazu führe, daß die Verbraucher zunehmend weniger kaufen können und mehr sparen müssen. Die Spareinlagen der Bevölkerung sind danach auf 260 Milliarden angeschwollen – nicht gerechnet das, was so manche Neureiche zuhause in der Schatulle anhäufen. „Die große Unwahrheit der Abstrakten wissenschaftlichen Rechnung besteht darin“, so resümiert Seljunin, „daß in ihr der güterwirtschaftliche Inhalt des neu geschaffenen Wertes ignoriert wird....Geld ist nur eine symbolische Widerspiegelung materieller Güter, und wenn hinter den Wertzuwächsen Werkzeugmaschinen, Mähdrescher, Raketen stehen, so gehen diese doch nicht in den individuellen Verbrauch ein.

An der Polemik von Seljunin ist zweierlei bemerkenswert: Sie erscheint einerseits zu Beginn eines Jahres, das von Gorbatschow als das entscheidende der ganzen Wirschaftsreform apostrophiert wird. Darüber hinaus ist deutlich geworden, daß Außenseiter in der UdSSR, die etablierte Lehrmeinungen angreifen, nicht mehr mit einem Wust von Klassikerzitaten arbeiten müssen, um veröffentlichen zu können.