Ein Debakel für die französische Justiz

Gereizte Stimmung unter Zuhörern und Journalisten und Schläge für die Angeklagten beim Pariser Prozeß gegen die „Action Directe“ / Angeklagte setzen gewünschte Sitzordnung in den Anklageboxen durch  ■ Aus Paris Georg Blume

Von der ruhigen Würde eines Gerichtssaals ist hier nichts zu spüren. Ruhig sitzt nur Jean-Marc Rouillan auf der Anklagebank, ohne Bewegung, die Arme über dem Kopf verschränkt. Rouillau, den man etwas vorschnell den „französischen Baader“ taufte, ist am 43. Tag seines Hungerstreiks angelangt. Das Gesicht ist bleich. Polizisten trugen ihn auf seinen Platz. Um ihn herum tobt der erste Prozeßtag im Verfahren gegen 19 mutmaßliche Mitglieder der französischen Untergrundorganisation „Action Directe“.

Ort der Handlung ist der nüchterne Saal der 14. Pariser Strafkammer. Anwälte, Polizisten und Journalisten stehen dicht an dicht. Es wird geschoben und gestoßen, die Stimmung ist gereizt. Über die beiden gegenüberliegenden Anklagebänke ist ein Drahtkäfig mit Panzerglas gestülpt, was einen an einen Hundezwinger erinnert. Da die Angeklagten zu spät kommen, können zwei Hausmeister im Blaukittel, selbstverständlich mit qualmenden Gauloises im Mund, noch letzte Vorkehrungen treffen. Mit dem Handbohrer bringen sie die im Zwinger festgeklemmte Fensterkurbel in Bewegung. Und als ob es nicht schon genug Krach im Saal gäbe, kann man nun auch die Hupkonzerte von draußen deutlich vernehmen.

Endlich werden die Angeklagten angeschleppt. Alle haben ihre Bereitschaft erklärt, vor Gericht zu erscheinen. Doch schon bei ihrem Eintritt in den Saal beginnen die Gewalttätigkeiten. Einige von ihnen hatten schriftliche Erklärungen vorbereitet, die kurz zuvor beschlagnahmt wurden. Nun vernimmt man Geräusche von stürzenden Menschen, von Schlägen und Stößen. „Laßt mich los. Ich will mit meinen Kameraden in einem Käfig sein“, schreit eine Frauenstimme. Gegen ihren Willen werden die Angeklagten in die Boxen aufgeteilt. „Hier ist es besser als in Chile“, ruft einer. Annähernd 50 Polizisten sind jetzt im Saal. Über ihre Köpfe hinweg begrüßt man sich lautstark von Käfig zu Käfig. Handschellen klirren. „Nehmt die endlich ab“, befiehlt ein Angeklagter. Der Wächter zögert, erst dann gehorcht er.

Nun tritt der Gerichtsvorsitzende Jaques Ducos ein. Als ersten fordert er den Angeklagten Schleicher auf, sich zu erheben. „Meine Hände tun weh, wir wurden über den Boden gezerrt, sie ha ben uns geschlagen“, entgegnet Schleicher. „Sie müssen aufstehen. Was glauben Sie, wo Sie sind?“ empört sich der Vorsitzende. „In einem Spektakel“, schallt es von der Anklagebank zurück. Keiner der Angeklagten in den Boxen erhebt sich. Einer von ihnen sagt etwas von menschlicher Würde. „Sie? Sie sprechen von Würde?“ Ducos droht aus derRolle zu fallen. Wieder kommt es zu Rempeleien in den Käfigen. Hochrot erhitzte Gesichter auf beiden Seiten. Schwitzkasten für einen Angeklagten. Verteidiger Levy sitzt nicht länger still: „Kann das Gericht bitte ganz einfach erklären, daß man die Angeklagten nicht schlagen soll?“ fragt der Anwalt mit sanfter Stimme in einem ruhigen Augenblick.

Welch ein Debakel für die französische Justiz! Eine Galavorstellung der eigenen Haltlosigkeit vor den Nationalfeinden der Boulevardpresse. „Asselmeyer“, brüllt der Vorsitzende den Namen eines Angeklagten, des angeblichen „Intellektuellen“ der Gruppe. „Monsieur Asselmeyer“, antwortet dieser, „Ich nenne Sie auch nicht Ducos.“ Nun endlich kommt dem Vorsitzenden die rettende Idee. Er ordnet eine Verhandlungspause an und läßt bei der Wiederaufnahme die Angeklagten so in die Boxen zusammenführen, wie diese es wünschen. Die Polizisten halten sich nun zurück. Bei den Angeklagten umarmt und küßt man sich, hält die Hände des anderen, flüstert miteineinander. Die aufgelöste Gruppe scheint sich wiederzufinden. Jetzt wacht auch Rouillan auf, als ob es nun Wichtiges zu besprechen gäbe.

Später am Abend normalisiert sich der Prozeßverlauf. Ducos verliest die ganze Latte der Verbrechen, die der „Action Directe“ nachgesagt werden, auch wenn diese hier nicht verhandelt werden. Die Verteidiger empören sich. „Diese Taten werden keinem der Angeklagten zur Last gelegt,“ erklärt Maitre Levy. In den Boxen ist Ruhe eingekehrt. Man unterhält sich. Rouillan hat den Kopf wieder in die Arme genommen.