„Fahr und strahl mit der Bundesbahn“

Atomkraftgegner blockierten Lübecker Hafen / Schlagstockeinsätze der Polizei machten den Weg für den Zug mit den MOX-Brennelementen frei / Spezialschiff „Sigyn“ konnte die strahlende Ladung mit Verspätung übernehmen  ■ Aus Lübeck Torsten Joel

Überall liegen Eisenträger auf den Schienen. Steine sind zwischen die Weichen geklemmt, um sie zu blockieren. Einige der Demonstranten befinden sich in einem Polizeikessel, offensichtlich als Polizeitaktik etabliert. „Oh wie schön, unser erster Lübecker Polizeikessel“, sind die sarkastischen Kommentare der Demonstranten. „Bringt immerhin 200 DM für jeden“, ruft einer der zahlreichen Pressefotografen in Anspielung auf den Hamburger Kessel der Menge zu. Die Fotografen stehen aufgereiht auf einem Güterwaggon und warten auf „Aktion“. Zwei Wasserwerfer sind in Stellung gebracht. Hinter einem Güterwagen halten sich Männer des Mobilen Einsatz-Kommandos versteckt und warten auf ihren Einsatz. Ausgeleuchtet ist die Szenerie mit zahlreichen in luftiger Höhe angebrachten und für Hafenanlagen typischen Lampen, hin und wieder leuchtet auch ein Kamerateam das Geschehen aus. In sicherer Entfernung protestiert die Lübecker SPD-Spitze, indem sie kleine gelbe Pappschilder mit dem Spruch „Stoppt Schönberg“ in die Höhe hält. Dem Aufruf, die Schienen, die in das Hafengelände führen, mitzublockieren, wollen die Sozialdemokraten aber nicht nachkommen.

Um 23 Uhr hatten sich 140 Menschen in einem Lübecker Kinderladen auf ein telefonisches Zeichen, welches den herannahenden Atomzug signalisierte,versammelt. Derweil wurde Skat, Canasta und Memory gespielt. 2.40 Uhr: Es klingelt. Die Gruppe verteilt sich auf drei Laster und wird zum vereinbarten Treffpunkt, ei nem Bahngleis, 500 Meter vom Hauptbahnhof entfernt, gefahren. Dort angekommen, rennt alles auf die Gleise, bildet Ketten und hält ein Transparent hoch, auf dem „Fahr und strahl mit der Deutschen Bundesbahn“ steht. Brennende Autoreifen sollen die Züge warnen. Um 6.30 Uhr wird nach mehrmaliger Aufforderung der Bereitschaftspolizei die Blockade abgebrochen. Die Blockierer bilden einen Demonstrationszug und ziehen zum Tor des Nordlandkais, wo schon andere Blockierer damit beschäftigt sind, Weichen durch das Zwischenklemmen von Steinen unbrauchbar zu machen.

Den Aufforderungen der Polizei, sich von den Schienen zu entfernen, kommen die Blockierer nicht nach. Die Konsequenzen sind klar: „Erste Reihe Marsch“, „Zweite Reihe Marsch“. 500 Blockierer werden zur Seite „geschoben“. Ein Polizist aus der zweiten Reihe ruft den Demonstanten zu: „Seid vernünftig, wir wollen keine Gewalt“, aber erst nachdem Polizisten der ersten Reihe kräftig Schläge verteilt haben. Lautstarke Empörung provoziert lediglich neue Schläge. Schließlich werden drei Schienen von den Blockierungen befreit. Um 7.15 Uhr rollte der Zug, eskortiert von Polizisten im Laufschritt, mit 22 MOX-Brennelementen aus den Atomkraftwerken Obrigheim und Grundremmingen in den Hafen. Das schwedische Spezialschiff „Sigyn“, eigens für Atommülltransporte in schwedisch-französischer Zusammenarbeit gebaut, läuft schließlich mit 50minütiger Verspätung um acht Uhr früh aus.

Das umstrittene Spezialschiff „Sigyn“ verunglückte mehrfach bei Hafeneinläufen. Eine in Schweden eingesetzte Havariekommission kritisierte die Manövrierfähigkeit des Schiffes und nannte es „träge, schwach und unberechenbar“.

Angeliefert wird die strahlende Fracht per Lkw oder Bahn, die Behälter sind wegen ihres hohen Helium-Druckes bei Unfällen berstungsgefährdeter als bei üblichen Brennelementetransporten. Gründe genug für den Lübecker Senat, dem Bürgermeister der Hansestadt die Empfehlung auszusprechen, die Transporte über Lübecks Straßen und Schienen zu verhindern, obwohl Lübeck bisher alle Prozesse verloren hat, die dies auf juristischem Wege ermöglichen sollten. „Es gibt Momente, in denen man Ungehorsam üben muß,“ begründet Innensenator Hilpert (SPD) seine, so wörtlich , „Aufforderung zum rechtswidrigen Verhalten“. Verkehrsminister Asmussen (CDU) nahm die Sache selbst in die Hand und gab endgültig grünes Licht für die Brennelementetransporte. „Wir müssen mit großen Demonstrationen rechnen, für die ich durchaus Verständnis habe“, sagt Innenmisister Hilpert voraus und trifft damit voll ins Schwarze. Verhindert hat das den Transport nicht.