: Der gläserne Patient
Patientendateien sollen die Krankenkassen zukünftig in die Lage versetzen, die Krankengeschichten ihrer Mitglieder per Computer-Knopfdruck lückenlos abzurufen ■ Von Vera Gaserow
Wenn die konservative ärztliche Standesvertretung Hartmannbund und die Grünen einer Meinung sind, kann man davon ausgehen, daß die Kritik sich an einem widersprüchlichen Gegenstand festmacht. Tatsächlich ist die von Arbeits- und Gesundheitsminister Blüm vorgeschlagene Patientendatei nicht ohne Reiz. Mit diesem von den Krankenkassen anzulegenden Krankenkonto soll zukünftig jeder Patient überprüfen können, ob die Abrechnungen der Ärzte auch seinen tatsächlichen Behandlungen entsprechen. Gleichzeitig bekommtjedoch die krankenkasse ein Kontrollinstrument in die Hand, das für jeden Patienten ungeahnte Konsequenzen haben kann. Wird der Vorschlag realisiert, weiß ein jeder Kassen-Mitarbeiter, wen die Leber drückt – auch der Urlaub auf Krankenschein dürfte dann ausfallen.
Das Ziel scheint hehr und klingt zudem noch verbraucherfreundlich: Zur „Kostendämpfung im Gesundheitswesen“ sollen ärztliche Leistungen jetzt für Patienten und Krankenkassen transparent gemacht werden, verspricht die Blümsche Strukturreform im Gesundheitswesen. Mehr Transparenz, das hört man immer gern, und welcher Patient wollte den gut verdienenden weißen Halbgöttern nicht längst schon mal auf die Finger klopfen? Doch bei den jetzt bekanntgewordenen Bonner Plänen hätten die Krankenversicherten selber guten Grund, sich vor allzuviel Licht zu fürchten, denn die vielbeschworene Transparenz wird nicht nur die Portemonnaies der Ärzte nach Schummeleien durchleuchten, sondern fast 40 Millionen Versicherte zu potentiellen gläsernen Patienten erklären.
Unüberschaubare Datenban ken, aus denen sich die Krankheitsgeschichte eine(r)s jeden einzelnen per Knopfdruck herauslesen läßt, würden danach bei den Krankenkassen aufgebaut werden. Ob die Nachbarin Krebs hat, der Autohändler schon seit langem wegen einer Entziehungskur in ärztlicher Behandlung ist, oder die Tochter des Schuldirektors gerade eine Abtreibung hinter sich hat – Krankenkassenmitarbeiter, die nicht der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen, könnten es per Knopfdruck erfahren.
Möglich würde dieses Szenario durch einen Passus im Blümschen Reformkonzept, der eigentlich ganz sinnvoll klingt: Alle Krankenkassen sollen in Zukunft verpflichtet werden, „für jeden Versicherten ein Leistungskonto zu führen“. Dieses Konto soll „Angaben über die von Ärzten und Zahnärzten verordneten Leistungen“ enthalten, die jedem Patienten eindeutig zuzuordnen sind. Der Patient soll durch Einsicht in dieses Konto überprüfen können, ob sein Arzt die Leistung auch tatsächlich erbracht hat, für die er bei der Krankenkasse abkassiert. Andererseits bekommen die Krankenkassen über diese Konten auch eine genaue Einsicht in die Privatsphäre ihrer Versicherten, die ihnen bisher weitgehend versperrt blieb.
Bis heute haben die Krankenkassen in ihren Unterlagen lediglich Angaben zur Person ihres Mitglieds, dessen Arbeitgeber und Vermerke über Arbeitsunfähigkeitszeiten. Registriert wurden bestenfalls noch größere, von der Kasse bewilligte Hilfsleistungen wie Prothesen oder Kuren. Die eigentliche Abrechnung anhand der vorgenommenen ärztlichen Leistungen besorgten bisher die Kassenärztlichen Vereinigungen, die als Mittler zwischen Patient und Krankenkasse einer Schweigepflicht unterlagen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen stellten den Krankenkassen dabei nur die Gesamtbeträge über ärztliche Leistungen in Rechnung. Welche Behandlung an welchem Patienten vorgenommen worden war, konnten die Kassen bisher nur mit großem Aufwand herausfinden.
Im Zuge der Leistungskontrolle der Ärzte sollen die Krankenkassen nun selber eine EDV- gerechte Aufstellung der einzelnen ärztlichen Maßnahmen und Verschreibungen bekommen. Dazu bekommt jeder Versicherte eine Code-Nummer, unter der dann alle ärztlichen Leistungen verbucht sind. In Tausenden von AOK-Geschäftsstellen oder Ersatzkassenniederlassungen wird man anhand dieser Leistungskonten erkennen können, wer an welcher Krankheit leidet, wessen Rezepte auf eine Medikamentensucht hindeuten, wer aufgrund welcher Krankheit schon des öfteren krank geschrieben war und wen man wohl besser als Schwiegersohn oder künftigen Arbeitnehmer nicht empfehlen könnte, weil er an einer chronischen oder gar unheilbaren Krankheit leidet. Gefährlich sind diese Datenbestände jedoch nicht nur unter dem Aspekt, daß Stammtischgespräche und Familienplaudereien von Krankenkassenmitarbeitern kaum kontrollierbar sein werden. Eine tickende Zeitbombe wäre allein die bloße Existenz von derart sensiblen Datenbanken, die mit ihren Feininformationen über zigmillionen Menschen die Begehrlichkeit von Arbeitgebern und anderen Interessengruppen wecken muß. Und gegenüber diesen Begehrlichkeiten wird auch ein strenger Datenschutz kaum standhalten können.
Äußerst interessant dürfte diese hauseigene Patientendatenbank auch für die Krankenkassen selber sein. Anhand der Leistungskonten läßt sich leicht feststellen, welcher Versicherte sich unwirtschaftlich verhält, weil er häufig den Arzt wechselt oder wegen einer „Lapalie krankfeiert“. Auch einer anderen überlegung könnten die Kassen mit der Blümschen Reform ein Stück näher kommen: Seit einigen Jahren ist ein gestaffelter Versicherungsbeitrag in der Diskussion analog zum Schadensfreiheitsrabatt bei den KFZ-Versicherungen. Wer etwa durch starkes Rauchen oder Übergewicht seine eigene Krankheit selbst mitverschuldet, soll mehr bezahlen, heißt die Devise.
Und noch eine andere Kontrolle über ihre Versicherten will der Gesetzentwurf den Krankenkassen einräumen. In jedem Land, so sieht es der Blüm-Entwurf vor, soll ein Medizinischer Dienst der Krankenkassen als öffentlich- rechtliche Körperschaft eingerichtet werden. Aufgabe dieses Dienstes sollen die Einzelfallbegutachtung und die Beratung sein. Leistungserbringer wie Ärzte und Krankenhäuser sollen verpflichtet werden, diesem Medizinischen Dienst der Krankenkassen alle erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskunft zu erteilen. Die Kompetenzen dieser „Gesundheitspolizei“ werden dabei ungleich größer sein als die des bisherigen Vertrauensarztes der Kassen. Eine der absehbaren Konsequenzen: Krankgeschriebene werden sich auf häufigere Kontroll-Besuche freuen dürfen. Für die „Urlauber auf krankenschein“ sieht der Blümsche Gesetzentwurf im Paragraphen 43 noch eine andere bittere Pille vor: Der behandelnde Arzt wird zukünftig verpflichtet sein, bei Krankschreibungen eine mögliche Teilarbeitsfähigkeit zu vermerken.
Die Problematik der Patienten- dateien hat in der vergangenen Woche unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Eine „totale Überwachung von Patienten und Ärzten“ befürchtet der SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dressler, und auch in den Reihen der FDP sind einige angesichts der unüberschaubaren und unkontrollierbaren Datenbestände, die bei Einführung der Leistungskonten greifbar würden, jetzt wach geworden. Die Grünen haben gestern auf einer Pressekonferenz in Bonn gegen die Regierungspläne protestiert. Ihre Kritik richtete sich vor allem auch gegen die geplante Einführung des Medizinischen Dienstes, den sie als „Blockwart der Gesundheit“ bezeichneten.
Daß der im Hartmannbund zusammengeschlossene konservative Teil der Ärzteschaft und die kassenärztliche Bundesvereinigung aus Angst vor Kontrolle gegen die geplante Patientendatei protestiert, mag einleuchten. Daß aber der Deutsche Patientenschutzbund glaubt, seinen Mitgliedern mit einer zentralen Datei bei den Krankenkassen etwas Gutes zu tun und der DGB eine „arzt- und versichertenbezogene Erfassung der Leistungsdaten“ für notwendig hält, kann man nur mit politischer Kurzsichtigkeit erklären. Beim Bundesdatenschutzbeauftragten will man nun die ganzen Pläne prüfen.
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