Ansichten einer Insel

Ein Morgen in Mister Patels Post Office  ■ Aus London Rolf Paasch

Ein grauer, kalter Januarmorgen in der Post- Filiale gleich um die Ecke. „Good morning Lizzy. „ „Moarnin Judy, saukalt isses. „ „Hast recht, so n Wetter bekommt mir gar nicht“. Judy stellt sich hinten an. Die Schlange im kleinen post office am Ende einer ganz gewöhnlichen Wohnstrasse in Ostlondon nähert sich der Tür. Lizzy ist jeden Morgen hier. Nicht um Briefe abzugeben, sie will sich nur ein bißchen aufwärmen, in jeder Hinsicht.

Mr. Patel, der gutmütig hinter der Theke seines kleinen Postlädchens sitzt, hat nichts dagegen. Mr. Patels Reich gleicht einer Mischung aus Tante Emma-Laden, Post und indischem Wohnzimmer. Wären da nicht die Pornomagazine auf dem obersten Regalbrett, könnte der Laden auch in der Provinz Gujarati angesiedelt sein, dort wo Mr. Patel wie viele seiner kleinunternehmerischen Kollegen in london herkommmen. Ohne diese von vielköpfigen indischen Familien betriebenen Schreibwarenläden und Postfilialen könnte der Brief- und Zeitungshunger des lesefreudigsten Volkes der Welt gar nicht gestillt werden.

Hier an der Ecke zur Brighton Road gibt es von Briefmarken bis zum Waschpulver , von der Plastikkalaschnikoff (ab 5 Jahre) bis zur kitschigen Geburtstagskarte, von Katzenfutter über Milch und Brot bis zum Boulevardblatt alles, was die metropolitane Existenz eines Sozialhilfeempängers ausmacht.

„Was macht denn Jeffrey“, erkundigt sich Lizzy nach Judys Ehemann, der seine Gattin zum Geldholen geschickt hat. „Als ich vorhin ging, war er sich noch am Rasieren. vielleicht hat er sich ja jetzt schon die Kehle durchgeschnitten“. Die beiden alten Damen, die zusammen siebeneinhalb vorderzähne ihr eigen nennen, kichern, daß sich sich die ganze Schlange nach ihnen umdreht: die beiden braunhäutigen Teenager, die ein Paket für die Großeltern in Bangladesh aufgeben; eine be leibte schwarze Mutti, die ihre beiden krausköpfigen Sprößlinge gerade von der Süßigkeitenauslage zurückzerrt; und Mr. Kurshi, der gerade die Einnahmen aus seinem türkischen Fish and Chips-Shop einzahlen will. Alle Einwanderer in das Vereinigte Königreich und Mr. Patels Post Office müssen lächeln, als sie sehen, wie die beiden Eingeborenen leise weitertuscheln. „Wärst aber doch aufgeschmissen, wenn Jeffrey sich was antun würde“. „Umgekehrt aber noch viel mehr“, gibt Judy trotzig zurück.“Frauen kommen auch alleine klar, Männer eben nicht“.

Mr. Patel lächelt. Er weiß, wovon Judy redet. Denn während er , der Schwarm aller älteren Ladies , auf seinem Hocker thronend, gelegentlich 15 pence für einen Schokoriegel oder den Daily Mirror einstreicht, bleibt es seiner Frau überlassen, den Postschalter abzufertigen, was bestimmt 90 ausmacht. Wenns ganz schlimm wird, muß auch noch Oma Patel ran. Als Ergebnis dieser eigenwilligen Arbeitsteilung, können Lizzy vor dem Gasöfchen, und Judy in der Schlange länger miteinander klönen. Nach einigen abfälligen Bemerkungen Judys über Lizzys Boyfriend, der trinkt, sind sie beim Streik der Postarbeiter angelangt.“Jedes Jahr das gleiche“. Daß die Gewerkschaften bei vier Millionen Arbeitslosen , die für britische Verhältnisse revolutionäre Forderung nach Arbeitszeitverkürzung stellen, steht auch in der ausliegenden Tagespresse nicht.

„Sollen nur so weitermachen, dann werden die auch noch provatisiert“. Des Volkes Stimme. Judy ist dran: „Sozialhilfe für zwei, bitte“. Wie fast die Hälfte aller Kunden, schiebt Judy Frau Patel den staatlichen Almosenscheck hinüber. 56 Pfund. „Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben“, sagt sie zu Lizzy, ehe sie sich zum Ausgang wendet.“See ya tonite“.

Heute abend werden die beiden sich in der Eckkneipe , dem „Prince of Wales“ wiedertreffen. Judy, weil ihr Jeffrey mit seinem ewigen Husten den ganzen Abend vor der Glotze zu langweilig ist, und Lizzy, weil es jetzt im Januar in der Kneipe billiger ist, als zu Hause zu heizen.“Vielleicht“, sagt sie, „gibt mir mein boyfriend ja heute abend einen Halben aus“. Denn nur so geht diese Rechnung auf. „Good bye, darling. Du Blume meines Lebens“, ruft mir Mr. Patel noch hinterher, wie sie mit ihren Hausschlappen und ihren speckigen, viel zu knappen Mantel wieder zu Jeffrey zurückschlurft, der sich wahrscheinlich doch wieder nicht die Kehle durchgeschnitten hat.

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