Wirtschaftliche Großmacht – soziales Entwicklungsland

Japaner arbeiten im Durchschnitt fast um ein Viertel mehr als die Bundesbürger / Erheblich weniger Fehlzeiten / Arbeiter mehrfach gespalten  ■ Von Dirk Messner

Japans Vormarsch auf den Weltmärkten scheint trotz aller Turbulenzen ungebrochen, allein zwischen 1982 und 1986 stiegen die jährlichen Ausfuhren des Landes um 70 Milliarden Dollar, die Unternehmen der unterdessen zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt zählen zu den erfolgreichsten High-Tech-Produzenten und viele glauben in dem „japanischen Modell“ die Gesellschaftformation zu erkennen, die in Zukunft – ähnlich wie die US-amerikanischen Produktionsmethoden, Konsummuster und der dazugehörige „American way of Life“ in den 50er Jahren – ihren Siegeszug um die Welt antreten wird. Ein Blick hinter die Fassaden des japanischen Wachstums- und Exportwunders läßt schlimmes befürchten, sollte sich tatsächlich eine Internationalisierung dieses Modells durchsetzen: Die wirtschaftliche Großmacht ist, verglichen mit den europäischen Industrieländern, ein sozialpolitisches Entwicklungsland.

2.152 Stunden arbeitete ein japanischer Industriearbeiter 1983, während seine Kollegen in den USA 1898, in Frankreich 1.657 und in Westdeutschland 1.613 Stunden jährlich ihre Arbeitskraft verkaufen mußten. Erstaunlicherweise hat sich die Arbeitszeitdifferenz zwischen den alten kapitalistischen Zentren und Japan in den letzten 30 Jahren, trotz der dynamischen nachholenden industriellen Entwicklung in dem Land im fernen Osten, kaum verändert. Während in den westlichen Industrienationen technologischer Fortschritt in der Tendenz zu im mer kürzeren Arbeitszeiten geführt hat, gab es in Japan in den letzten zehn Jahren zwar rasante Produktivitätssteigerungen, jedoch keinerlei Arbeitszeitverkürzungen.

Eine wesentliche Ursache für die langen Arbeitszeiten ist in dem „Nutzungsgrad“ der Beschäftigten in den japanischen Unternehmen auszumachen. Die jährlichen Fehlzeiten in der privaten Wirtschaft beträgt nur 1,6 eine Abwesenheitsrate von nur 4,9 die Gesamtabwesenheitsrate inklusive Urlaub, Krankheit und Streiktage, bei etwa 17 die wesentlich kürzeren Urlaubszeiten, die japanischen Arbeitern zustehen, und der überraschende Tatbestand, daß diese nur zu 55% in Anspruch genommen werden.

Dieses auf den ersten Blick völlig unverständliche Verhalten wird häufig auf die „unergründliche Kulturtradition“ des Fernen Ostens zurückgeführt. Tatsächlich dürften aber ganz handfeste finanzielle Motive und die unzureichenden sozialen Sicherungssysteme für das Urlaubsverhalten ausschlaggebend sein. Zum einen werden in Krankheitsfällen – nach drei Karenztagen – nur 60% des Lohnes durch die Krankenversicherung erstattet, so daß vor allem ältere Arbeitskräfte ihren Jahresurlaub für mögliche Erkrankungen „aufsparen“. Andererseits sind in japanischen Unternehmen halbjährliche Bonuszah lungen üblich, die allerdings an die permanente Anwesenheit gekoppelt sind.

Für hiesige Vorstellungen ebenso überraschend sind die unbezahlten Stunden, die in den japanischen Fabriken anfallen. Allgemein üblich sind „Morgenbegrüßungen“, das Absingen von Firmenhymnen, Ermahnungen zur Arbeitsdisziplin und Frühsport in den noch weitverbreiteten Arbeitsuniformen. Erst nach dieser obligatorischen Prozedur beginnt der bezahlte Arbeitstag.

Stellt sich die Frage, wie sich denn all diese Strukturmerkmale des japanischen Modells, die das Herz jedes Kapitalisten höher schlagen lassen, überhaupt durchsetzen lassen? Das häufig vorge tragene Argument, die japanischen industriellen Beziehungen basierten auf den noch intakten vorindustriellen Autoritätsmustern, verschleiert wohl auch hier die komplexen gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen. Entscheidend hingegen ist die Schwäche der Gewerkschaften, die einerseits in der Form der Betriebsgewerkschaften angelegt ist. Deren Bestehen ist direkt mit den sie tragenden Unternehmen verknüpft. Der andere Grund liegt in den vielfältigen Spaltungslinien quer durch die japanische Arbeiterklasse.

Im wesentlichen ist eine Dreiteilung der japanischen Beschäftigten festzustellen, wodurch solidarische gewerkschaftliche Abwehrreaktionen gegen unternehmerische Willkür enorm eingeschränkt werden. Die erste Spaltungslinie verläuft zwischen den Beschäftigten in Großunternehmen und den vielen von diesen Konzernen abhängigen Zuliefererbetrieben mittlerer Größe bis hin zur Heimarbeit in bäuerlichen Familien. Das Lohnniveau in den quasi gewerkschaftsfreien Zuliefererbetrieben (Shitauke) ist niedriger als in den Mutterkonzernen, die Arbeitsbedingungen schlechter, die Arbeitsverhältnisse ungesichert und ohne Kündigungsschutz, sodaß bei einem Rückgang der Aufträge in den Mutterkonzernen zuerst die Beschäftigten in den kleinsten Shitauke mit Kündigungen zu rechnen haben. Eine derartige staatlich unkontollierte Produktionsorganisation garantiert den japanischen Kapitalen eine optimale Flexibiliät auf dem Arbeitsmarkt.

Diese Form der Spaltung der japanischen Arbeiterklasse wird ergänzt durch eine Fragmentierung der Belegschaften. Den berühmten (männlichen) Kernbelegschaften mit einer Dauerbeschäftigungsgarantie, die etwa 30 Teil Aufstiegschancen, während eine wachsende Schicht von Beschäftigten, und hier vor allem Frauen, ohne Aufstiegschancen je nach Bedarf zur Verfügung stehen, als Reservearmee fungieren, nur noch teilzeitbeschäftigt sind oder als LeiharbeiterInnen verhökert werden. Allein zwischen 1960 und 1985 hat sich die Teilzeitarbeit verdreifacht und gleichzeitig „feminisiert“. Der Anteil der Frauen in diesen „Jobs auf Abruf“ liegt bei 70 %.

Insgesamt ergibt sich ein Geflecht von industriellen Beziehungen, das die Konkurrenz in den Fabriken und zwischen den jeweiligen Fraktionen der japanischen Arbeiterklasse permanent reproduziert und damit einheitliche gewerkschaftliche Strategien erfolgreich unterminiert. Es bleibt abzuwarten, ob in Zukunft die viel bestaunten japanischen Managementmethoden auf die bundesdeutschen Unternehmen übertragen werden können. Letztlich ginge dies wohl nur, so orakelt zumindest der japanische Politologe Tetsuro Kato, über eine weitreichende Entrechtung der westdeutschen Beschäftigten, eine gründliche Schwächung ihrer Gewerkschaften und eine Verwandlung des bereits angeschlagenen Wohlfahrtsstaates in einen „Unternehmerstaat“ japanischer Prägung.