DDR: Haftbefehle im Namen Rosa Luxemburgs

■ Staatsanwaltschaft wirft sechs Mitgliedern von Oppositionsgruppen „Zusammenrottung“ vor / Gestern noch 80 festgenommene Demonstranten in Haft

Berlin (taz) – Die DDR-Staatsanwaltschaft hat gestern gegen sechs besonders aktive Mitglieder oppositioneller Gruppen Haftbefehle erlassen. Unter ihnen ist auch der Ost-Berliner Liedermacher Stephan Krawczyk, der seit zwei Jahren Berufsverbot hat. Die Staatsanwaltschaft wirft den sechs Verhafteten einen Verstoß gegen den Paragraphen 217 Absatz 1 des DDR-Strafgesetzbuches vor, nach dem auf „Zusammenrottung“ bis zu zwei Jahre Haft stehen. Gegen den Liedermacher wird außerdem nach Pa ragraph 214 wegen der „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ ermittelt.

Alle sechs Verhafteten hatten am Sonntag in Ost-Berlin an der offiziellen „Kampfdemonstration“ zur Ehrung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts teilgenommen. Dort waren sie zusammen mit rund 120 anderen Vertretern unabhängiger DDR- Menschenrechtsgruppen festgenommen worden. Sie hatten auf Transparenten mit dem Rosa-Luxemburg-Zitat darauf hingewiesen, daß „Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden“ sei. Gestern nachmittag befanden sich nach Angaben aus Ost-Berliner oppositionellen Kreisen noch rund 80 der Festgenommenen in Haft. Da in der DDR Festgenommene maximal 72 Stunden festgehalten werden können, ohne einem Haftrichter vorgeführt zu werden, war gestern nachmittag noch unklar, ob weitere Haftbefehle folgen werden.

Der Ost-Berliner Vertreter der „Initiative Frieden und Menschrechte“, Ralf Hirsch, bezeichnete es als „grotesk“, daß die DDR-Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen Menschen erlassen habe, die dem Aufruf der SED nachgekommen seien, sich an der Kampfdemonstration für Rosa Luxemburg zu beteiligen. Unter den sechs Verhafteten sind Vera Wollenberger und Herbert Mißlitz, die die „Kirche von unten“ mitgegründet haben und zu den exponierten Vertretern der Ost- Berliner Friedens- und Menschenrechtsgruppen gehören. Bereits am Montag waren ihre Wohnungen durchsucht und zahlreiche Manuskripte und Bücher beschlagnahmt worden. Bei der Durchsuchung der gemeinsamen Wohnung des Liedermachers Krawczyk und der Regisseurin Freya Klier ließen die Ermittler auch Liedtexte mitgehen.

Die drei anderen Haftbefehle wurden gegen die Mitglieder der „Umweltbibliothek“ Till Böttcher, Andreas Kalk und Bert Schlegel erlassen. Gegen alle drei war nach der Razzia in der Umweltbibliothek im November schon einmal ermittelt worden.

Der Ost-Berliner Konsistorialpräsident Stolpe erklärte gegenüber der taz, die Kirchenleitung müsse diesmal besonders „behutsam“ vorgehen. Staatliche Vertreter hätten im Gespräch mit der Kirchenleitung erklärt, daß unter den Festgenommenen zu 90 Prozent Ausreisewillige seien, die die Demonstration nur als „Vorwand mißbraucht“ hätten, um ihre Ausreise zu beschleunigen. Stolpe versprach jedoch, sich für die Ver treter der unabhängigen Friedensgruppen „ganz besonders“ einzusetzen.

Vertreter Ost-Berliner Menschenrechtsgruppen wiesen gestern die Darstellung staatlicher Stellen zurück, daß die Aktion der unabhängigen Gruppen von Ausreisewilligen geleitet worden sei. An der Aktion habe sich auch eine Gruppe Ausreisewilliger beteiligt, betonte Ralf Hirsch von der Initiative Frieden und Menschenrechte. Die Aktion sei jedoch von vielen unabhängigen Gruppen gemeinsam getragen worden. Ende letzter Woche hatten die DDR-Behörden überraschend eine Gruppe von 24 DDR-Bürgern ultimativ aufgefordert, das Land innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Alle 24, die jetzt im Aufnahmelager Gießen untergebracht sind, hatten schon vor einiger Zeit einen Ausreiseantrag gestellt. Daß sie jetzt innerhalb weniger Stunden ihre Zelte in der DDR abbrechen mußten, bringen sie mit ihrem Engagement in einer „Staatsbürgerschaftsrechts-Gruppe“ in Verbindung. Im Vorfeld der alljährlichen „Kampfdemonstration“ zum Ge denken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren Mitglieder dieser Gruppe von den DDR- Behörden vor einer Teilnahme gewarnt worden.