Honduras auf der Anklagebank

Zum erstenmal in der Geschichte Lateinamerikas wird ein Prozeß gegen einen Staat geführt / Vor dem Interamerikanischen Gerichtshof in San Jose, Costa Rica, soll sich Honduras wegen des „Verschwindenlassens“ von Menschen verantworten  ■ Aus San Jose Thomas Schmid

Der Rentner, der – auf einen Stock gestützt – bedächtig durch den Saal geschritten ist und nun im Zeugenstand Platz genommen hat, erinnert sich noch genau, als ob es erst gestern geschehen sei: „Eines Tages rief mich jemand an. Er sagte, er sei von der honduranischen Botschaft. Ich möge mich bitte hier in San Jose vor der Hauptpost einfinden. Dort tauchte dann ein Herr auf, zeigte mir einen Ausschnitt aus einer honduranischen Zeitung mit einem Foto, auf dem zwei Leichen zu sehen waren. Der Tote links, das war mein Sohn. In der Bildunterschrift war von erschossenen Guerilleros die Rede.“

Sechs Jahre liegt das Ereignis zurück, das am Dienstag vor dem „Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte“ der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in San Jose, Hauptstadt von Costa Rica, verhandelt wurde. Zum erstenmal in der Geschichte Lateinamerikas sitzt hier – formal – ein Staat auf der Anklagebank, nämlich Honduras. Delikt: „Verschwindenlassen“ von vier Personen. Diese vier sind stellvertretend für weitere 140 dokumentierte Fälle, in denen honduranische Sicherheitskräfte zwischen 1981 und 1984 mißliebige Personen entführten oder verschleppten.

Das Infame des von zahlreichen Staaten praktizierten „Verschwindenlassens“ von Personen liegt darin, daß damit den Angehörigen nicht nur die Lebenden, sondern auch noch die Toten genommen werden. Es gibt keine Beerdigung, kein Grab, keine Stätte der stillen Begegnung. Juristisch gesehen ist ein Fall von „Verschwindenlassen“ schon deshalb komplizierter als ein Mord, weil die Leiche fehlt. Olmeda Rivera, Beraterin des honduranischen Außenministeriums, drückt diesen Sachverhalt der juristischen Beweisnot in der ihr eigenen zynischen Logik aus: „Der einzige mögliche Beweis dafür, daß jemand verschwunden ist, besteht darin, daß er wieder auftaucht. Daraus können wir schließen, daß es in Honduras keinen einzigen Verschwundenen gibt.“ Olmeda Rivera gehört wie auch der Botschafter von Honduras in Costa Rica, ein Staatsanwalt des Obersten Gerichts und ein Professor der Rechtswissenschaft zur siebenköpfigen Delegation der honduranischen Regierung, die den angeklagten Staat verteidigt und den Zeugen ins Kreuzverhör nimmt.

Doch Francisco Fairen, der Rentner im Zeugenstand, hält den Fragen stand. Ohne sich auch nur im geringsten zu widersprechen, berichtet er von seiner Odyssee in Honduras, vom Autopsiebericht, von der Bäuerin, die ihm die Schlucht gezeigt hat, in die mehrere Leichen und möglicherweise auch die seines Sohnes geworfen worden waren, von vergeblichen Gängen zu Gerichten und Ministerien. Sein Sohn blieb spurlos verschwunden.

Doch dafür, daß Francisco Fairen junior von staatlichen Organen verschleppt worden ist, gibt es eine prominente Zeugin: Anfang Oktober trat vor dem internationalen Gerichtshof die honduranische Anwältin Ines Murillo auf. Sie zählt zu den wenigen Personen, denen es gelang, die teuflische Logik von Olmeda zu durchbrechen. 80 Tage lang war sie selbst „verschwunden“, und wurde in Geheimgefängnissen gefoltert. Ihr Leben hat sie wohl dem Umstand zu verdanken, daß sie einer prominenten Familie angehört und zudem neben der honduranischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Nach Ines Murillo trat einer ihrer Verhörer in den Zeugenstand: Florencio Caballero, abgesprungener Offizier des Bataillons 3-16, einer militärischen Sonder einheit, die als Todesschwadron agierte. Seine Aussagen waren sensationell.

Caballero, der 1986 nach einem Anschlag auf sein Leben ins Exil floh und heute in Kanada lebt, berichtete Details über das Vorgehen der Todesschwadrone und über die Lage ihrer Geheimgefängnisse. Unter anderem gab er auch zu Protokoll, daß Francisco Fairen auf der Liste der Verschleppten stand, die das Bataillon 3-16 führte, um sicherzustellen, daß entführte Personen nur dann wirklich gesucht wurden, wenn sie nicht von den eigenen Leuten verschleppt worden waren. Archivar des Bataillons war nach Aussagen des Deserteurs Jose Isalas Vilorio, der 1981 an der Verschleppung des Studentenführers Manfredo Velasquez Rodriguez beteiligt war.

Jose Isaias Vilorio, der die Liste der Entführten nach Auskunft von Caballero verwaltete, hätte am Montag vor dem Interamerikanischen Gericht aussagen sollen. Dazu kam es nicht mehr, denn am 5. Januar war er in der hondura vergangenen Donnerstag erschossen: Miguel Angel Pavon, Präsident des „Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte“ von San Pedro Sula, der zweitgrößten Stadt von Honduras.

Zwei weitere Personen, die am Dienstag als Zeugen geladen waren, erschienen ebenfalls nicht: Alexander Hernandez Santos, ehemaliger Kommandant des Bataillons 3-16 und heute Leiter der Polizeiakademie des Landes, und Marco Tulio Regalado Hernandez, Bruder des heutigen Armeechefs und nach den Aussagen Caballeros innerhalb der Todesschwadrons zuständig für die Folterung der Verschleppten, die fast ausnahmslos umgebracht wurden. Man fürchte hier in Costa Rica um ihr Leben, begründete die Delegation der honduranischen Regierung das Fehlen der Hauptzeugen und besaß noch die Verwegenheit, dem Gerichtshof vorzuschlagen, zur Vernehmung der beiden Militärs ins sichere Honduras zu fliegen.

Die Vernehmungen sind abgeschlossen. Das Urteil wird der Interamerikanische Gerichtshof irgendwann in den nächsten Wochen verkünden. Mit dem Gefühl der Leere, von dem Francisco Fairen vor Gericht sprach, bis ihm der Schmerz die Stimme raubte, werden die Angehörigen leben müssen.