Brandstiftung gegen das Schweigen

Zwei junge schwarze Zwillingsschwestern, die nur miteinander sprechen, werden auf unbegrenzte Zeit in das psychiatrische Gefängnis Broadmoor, England, eingeliefert. Eine Journalistin recherchierte die extreme Außenseitergeschichte der „schweigsamen Zwillinge“  ■ Von Bettina Decke

Wollen Sie Ihr Buch nicht „Stoffpuppe“ nennen? schlug Jennifer Gibbens, die junge Insassin eines englischen Gefängnishospitals für geisteskranke Schwerkriminelle, der JouJournalistin Marjorie Wallace vor. Die Sunday Times-Reporterin, die das harte Justizurteil gegen die Zwillinge Jennifer und June Gibbons empört hatte, schrieb ein Buch über das Lebensdrama der beiden Schwestern. Sie wählte jedoch einen anderen Titel: „The silent Twins“, zu Deutsch: „Die schweigsamen Zwillinge“. Wieder einmal hatte eine Definition der Umwelt über June und Jennifer die Oberhand gewonnen. Andererseits hatte sich noch kein Mensch so intensiv mit den Zwillingen beschäftigt wie Majorie Wallace.

Sie wertete die Tagebücher, Erzählungen und Romane der beiden aus: Tausende von Blättern eng beschrieben mit klitzekleinen Buchstaben, die wie „winzige schwarze Stickerei“ wirkten und von der Polizei in schwarze Müllsäcke gestopft worden waren. Sie sprach mit den Eltern der heute vierundzwanzigjährigen Schwestern, recherchierte bei Pädagogen, Psychiatern und dem Gefängnispersonal. June und Jennifer Gibbons gehörten gleich auf mehrfache Weise zum Rande der englischen Gesellschaft: Schwarz, weiblich, Kinder einer in bedrückenden Verhältnissn lebenden karibischen Einwandererfamilie der ersten Generation. Den Eltern der insgesamt siebenköpfigen Familie war ein bescheidener Aufstieg innerhalb der – überwiegend weißen – Royal Air Force gelungen. Doch erkauft wurde er mit der Einkasernierung in öden, heruntergekommenen Wohnsiedlungen der Luftwaffe, mit sozialer Isolierung im Milieu weißer Kleinstädte, mit Unsicherheit und innerer Verarmung.

Die Unfähigkeit von Menschen, die sich nahestehen, miteinander zu kommunizieren, die stattdessen Erlösung in wilder selbstzerstörerischer Ekstase von Sex und Crime suchen, wird später ein wichtiges Thema der Zwillinge. Das Bild einer Wohnung als „schlafender Friedhof“, wo sich das Surren des Kühlschranks in einen „tiefen Seufzer“ verwandelt oder der Haß, den sich June später im Untersuchungsgefängnis von der Seele schreibt, haben ihren Ursprung vermutlich in den trostlosen Kleinstadtsiedlungen der Royal Air Force: Der Fernseher bot die einzige Befriedigung. Familienausflüge, Urlaub, karibische Großfamilie – all das gab es nicht. „Wer will schon sommerliche Geräusche hören, wennn er im Gefängnis sitzt? Wer will überhaupt sommerliche Geräusche hören, auch wenn er frei ist? Ich nicht, ich hasse den Sommer. Immer dieselben Ausflüge, glückliche Menschen (aber sind sie wirklich glücklich?), Fahrten in lang geplante Ferien (die sich als Katastrophe und Tragödie herausstellen) ...Dir mag das komisch vorkommen, ich, ein Mädchen aus Westindien, verabscheue den Sommer. Ja, ich hasse die Massen, die an den Strand hasten. Die miesen abstoßenden Geräusche des Diskjockeys im Radio, der Platten auflegt, verfluchte Platten, an die wir uns eine Zeitlang erinnern müssen...“

Kein niedliches Pärchen

June und Jennifer schienen zunächst muntere, entzückende Babies zu sein, wie üblich bei weiblichen Zwillingen wurden sie wahrscheinlich als niedliches Pärchen idealisiert. Wie viele Zwil linge lernen sie später als andere Kinder sprechen, entwickelten eine Geheimsprache und waren unzertrennlich. Aus der frühkindlichen Zwillingssymbiose fanden sie indes nicht heraus. Während sie munter miteinander sprachen, lachten oder stritten, errichteten sie nach Außen eine Mauer aus Wort- und Teilnahmslosigkeit, die durch starre und völlig synchrone Bewegungen noch verstärkt wurde. In der Schule wurden sie noch enger zueinandergetrieben. Die Kinder schikanierten sie, weil sie nicht richtig sprachen und obendrein auch noch schwarz waren. Ein Schularzt schloß sie mit dem Verdikt „Zombies“ noch einmal aus der Gesellschaft der „Normalen“ aus. Ein Junge, dem sie in der Sonderschule auf jede einzelne Zigarette in seinem Päckchen Liebesbotschaften schrieben, bezeichnete sie später als „dürre schwarze Kaninchen“.

Versuche von Pädagogen, sie aus der Verschanzung in ihrer Dyade zu lösen, scheiterten. Immer heftiger wünschten die beiden zwar, voneinander befreit zu werden – ihre oftmals zerkratzten Gesichter deuteten an, daß sie sich bis aufs Blut hassen konnten. Doch ebenso stark war das Band, das sie zusammenhielt. Von ihrer Umwelt erwarteten sie zwar Hilfe. Doch sobald sie sich als Objekte von Hilfsbemühungen fühlten, leisteten sie hartnäckig Widerstand. Nachdem sie die Sonderschule hiner sich gebracht hatten, zogen sie sich gänzlich in ihr Zimmer zurück. Sie flohen vor ihrer Weiblichkeit. Ihre schwellenden Brüste preßten sie mit festen Bandagen flach, und June schrieb: „Ich hatte das seltsame Gefühl, unter all meinen weiblichen Attributen ein Junge zu sein“. Extrem widersprüchliche Bilder des Weiblichen drängten sich ihnen auf. Da war die geliebte Mutter, mit dem „Kummer all der Jahre in ihren Augen“. Da waren aber auch die Mannequins der Modekataloge der Mutter, die Eifersucht auf Männer und „mächtigen Haß“ aufs Feminine anstachelten: „Diese dummen, femininen wehrlosen Frauen. Ich hatte das Gefühl, daß sie die Sexualität herabsetzten. Ich haßte mich aus tiefster Seele, weil ich eine Frau war...ich dachte, ich hätte das wilde sexbe sessene Gemüt eines Jungen, aber den Körper eines Mädchens. Die Demütigungen, die ich als Frau zu ertragen hätte!“, schrieb June.

Sex und Crime

Ihre Kammer verwandelten die Zwillinge in ein „Kraftwerk der Phantasie“. Mit ihren Puppen – und zunächst auch mit der kleinen Schwester Rosie, die eine Zeit lang als einziges Familienmitglied zugelassen war – inszenierten sie Familiendramen. Sie erfanden komplette Rundfunkprogramme, das „Radio Gibbons“. Von ihrem Arbeitslosengeld kauften sie sich auf dem Versandweg eine ganze Bibliothek zusammen. Sie lasen unaufhörlich. Die Brontes, Jane Austen und D.H. Lawrence gehörten zu ihren Lieblingsautoren. Sie verschlangen Bücher über US- und mittelamerikanische Subkultur, über Psychologie, Sexualkunde oder Magie. Um sich aus ihrer „magischen Verstrickung“ zu befreien, gaben sie sich dem Okkultismus hin.

Vor allem aber sehnten sie sich die Zwilinge nach einer Sprache, die ihre unverwechselbare Individualität ausdrücken und ihre Einmaligkeit öffentlich bestätigen würde: Sie wollten berühmte Schriftstellerinnen werden. Sie ließen sich Schreibmaschinen kaufen und absolvierten Fernkurse für Schriftstellerei. Nächtelang schrieben sie: Tagebücher, Erzählungen, Romane. Einen Roman, „Die Pepsi Cola-Süchtigen“, konnte June mit Hilfe ihres Arbeitslosengeldes bei einem Verlag veröffentlichen.

Die vielen Absagen durch Verlage, die quälende Diskrepanz zwischen angelesenem Wissen und Phantasie und der eigenen Erfahrungsarmut, aber auch die Sehnsucht, den Bann ihrer Haß- Liebe zu sprengen, treiben June und Jennifer schließlich aus ihren vier Wänden hinaus. Sie geraten an verwahrloste Jugendliche. Die verachtungsvolle sexuelle Ausbeutung durch die Rowdies, Alkohol- und Drogenrausch erleben die Zwillinge als Gipfel wilder Liebesleidenschaft.

Doch bald sind sie wieder allein, streunen herum auf der gierig-hilflosen Suche nach Liebe. Vergeblich: „Ich mache mir nichts aus Sex. Ich finde ihn abstoßend...Aber ich möchte den Jungen geben, was sie wollen. Ich habe Angst, sie zurückzuweisen oder ihre Gefühle zu verletzen...Die Jungen benutzen bloß meinen Körper, sie wollen einen nicht richtig kennenlernen. Ist es meine Hautfarbe? Mein Pech? Oder einfach die Art, wie das andere Geschlecht mich sieht?“. In ihrem Liebeswerben sind sie aktiv und drängend, also „männlich“, in ihren Sehnsüchten jedoch „weiblich“. Der Teufelskreis von blinder Gier, Masochismus und Enttäuschung steigert ihre Einsamkeit und damit – mörderisch – ihre gegenseitige Haßliebe.

In einem letzten Ausbruchversuch greifen sie zu kleinen Diebstählen und Brandstiftungen: flammende Hilferufe. Sie sehnen ihre Verhaftung geradezu herbei, phantasieren Polizisten als Retter. Ertappt aber müssen die kaum neunzehnjährigen jungen Frauen acht qualvolle Monate in Untersuchungshaft verbringen. Mit überwacher Sensibiliät und einer – quälend zu lesenden – Fähigkeit zu rückhaltloser Selbstanalyse berichten sie in ihren Tagebüchern über ihre Kämpfe und Erfahrungen.

Endstation Broadmoor

Am Ende verurteilt ein Gericht sie zu unbegrenzter Internierung in dem berüchtigten psychiatrischen Gefängnis Broadmoor, eine Strafe, wie sie sonst über Mörder verhängt wird. Wo Hoffnung sich subjektiv nicht ersticken läßt, ihr zugleich jedoch jede reale Basis genommen ist, kann sie sich nur noch an den Aggressor klammern. Die letzte Tagebucheintragung Junes, bevor die Zwillinge nach Broadmoor transportiert wurden: „Ich werde fortgebracht ins Gelobte Land...Und eines Tages werde ich auf jenen Montag, den 21. Juni zurückblicken, und was werde ich denken? Ich werde nichts sehen als meine Schwester und mich, verletzlich wie Blumen in der Hölle, unwichtig und doch wichtig, auf dem Flug in einen neuen Lebensabschnitt“. Jennifer: „Bitte, lieber Gott, laß mich in meinem neuen Leben nicht so leiden, wie ich hier gelitten habe...Laß dieses Leiden mich nicht noch einmal lähmen, meine Fähigkeiten vernichten, meine Zunge zusammenschnüren wie Feuerholz“.

Die Hoffnungen, mit denen June und Jennifer das psychiatrische Gefängnis betraten, sind bald zerschlagen. Zwar lernten sie ein wenig, ihr Schweigen zu brechen, sich voneinander zu trennen und in ihren erotischen Wünschen zu bescheiden. Doch solche Anpassung mittels Psychopharmaka und Verhaltenskonditionierung mittels Lohn und Strafe mußten sie mit einer Verarmung ihrer Kreativität bezahlen. „Sie schreiben nur noch Tagebuch. Dafür interessiert sich Hollywoods Filmindustrie“, heißt es in einer Nachbemerkung des Orlanda Verlages.

Herumgemurkst

Wiewohl Marjorie Wallace mit der für Engländer typischen Mischung aus Sensibilität und Gelassenheit erzählt und zitiert, wurde mir die Enthüllung des Intimsten der Zwillinge manchmal zu viel. Die beiden sind eben keine Romanfiguren oder bereits verstorben, auch keine Lebenden, die über die Verwendung ihrer Tagebücher wirklich frei hätten entscheiden können, sondern Gefangene der Gefängnispsychiatrie, die in die Journalistin die Hoffnung von Ertrinkenden setzten. June schrieb im September 1983 ein Gedicht, in dem es heißt: „Ich bin ein leerer Geschenkkarton, ausgepackt zu jemand anderes Verwendung.“

Vielleicht hat sie dabei auch an das Buch gedacht, das Marjorie Wallace gerade schrieb.

Der Eindruck, beim Lesen dem Sog eines spannenden Falls voyeuristisch zu erliegen, wird auch damit zusammenhängen, daß mit der Entblößung der extremen Innenwelt der Zwillinge eine eher verhaltene und wenig reflektierende Kritik an jenen Institutionen (und Personen) korrespondiert, die an June und Jennifer herummurksten. Freilich, es war nicht grobe Brutalität, der die Zwillinge begegneten, sondern alltägliche Verfahrensweisen einer rassistisch geprägten Klassen- und Berufstätigengesellschaft, in der das Herumdoktern an gestörten Kindern zur Normalität gehört.

Da waren die schwarzen Einwanderereltern, die über eigene Leiden hinwegschwiegen, nicht auffallen wollten und hofften, daß ihre Zwillinge schon irgendwie wieder normal werden würden. Da ist nicht nur die absurde, schmerzhafte Zungenoperation, die June und Jennifer das Sprechen lehren soll. Da ist auch die begabte Sonderschullehrerin, die einen kostbaren Zugang zu den beiden Mädchen findet; doch da sie ein Kind bekommt, steigt sie aus und überläßt „den Fall“ den anderen. Da sind Psychiater und Gerichte, die den gewohnten Denkschamata und Finanzkalkülen ihres Berufsstandes folgen. Da sind die vielen anderen, die sich ebenfalls bis zum gewiessen Grasde bemühen, jedoch bald abschalten, weil alles Exteme, hartnäckig Widerständige sie überfordert. Es hätte radikaler, das heißt freiheitlicher, hingebungsvoller und ganz schlicht kostenintensiver therapeutischer Liebe bedurft, um den verzweifelten Hilferufen – vom Verstummen bis zur Brandstiftung – von June und Jennifer zu entsprechen. Im Milieu der Zwillinge war die Chance dafür gleich Null. Nicht einmal eine schwarze Psychologin wurde bemüht.

„Die schweigsamen Zwillinge“, Marjorie Wallace, Orlande-Frauenverlag, Berlin 1987