Große Koalition gegen Atomtransporte in Lübeck

Die Hansestadt hat noch keine rechtliche Handhabe gegen die mit Atommüll beladenen Lastwagen auf dem Bundesgrenzschutz-Gelände / Vom Innensenator bis zum Autonomen sind alle bei der Blockade / Gerüchte um die Gefährlichkeit der strahlenden Ladung  ■ Aus Lübeck Axel Kintzinger

Egon Hilpert ist in Eile. Ende März läuft seine Amtszeit als Lübecker Innensenator ab, und noch nie war der Job des SPD-Mannes so aufreibend wie in diesen Tagen. Seit nun schon fast einer Woche stehen auf dem Gelände der Lübecker Bundesgrenzschutz-Kaserne an der Walderseestraße drei Laster mit insgesamt 21 Tonnen Uranhexafluorid – der Stoff, mit dem das für die Kernspaltung unbrauchbare Uran 235 zum schweren, für Kernbrennstäbe nötigen Uran 238 aufgepeppt wird. Die drei Laster einer holsteinischen Spedition hatten die Ware, die 1984 bei einem Schiffsunglück im Ärmelkanal zweifelhaften Ruhm erlangte, im französischen Pierrelatte abgeholt und sich auf den Weg zur schwedischen Nuklear- Firma ASEA-Atom gemacht. Das zumindest ist die offizielle Version. „Aber nach Hanau hat sich die Welt etwas geändert“, sagt Egon Hilpert. Er mag kaum noch glauben, daß in den LKW wirklich drin ist, was in den Papieren steht. Während er der taz zwischen Senats- und anderen Sitzungen seine Zweifel erklärt, erreicht ihn telefonisch das erste Indiz, daß die Lübecker Atomfracht mit 3,5 Prozent Uran 238 angereichert sei und es sich damit um Kernbrennstoff handele, der nach dem Atomgesetz nur an speziell genehmigten Orten gelagert werden darf.

Sollte sich diese Meldung be stätigen, hätte die altehrwürdige Hansestadt Lübeck, in die Innensenator Hilpert mit Jeans und Turnschuhen so gar nicht zu passen scheint, endlich eine rechtliche Handhabe, um die ungeliebten drei LKW zum Teufel oder zumindest nach Hamburg zu schicken, wo sich der nächste genehmigte „Ausweichstandort“ für Transportprobleme befindet. Bislang blieb dem atomaren Verschiffungs-Standort Lübeck nur symbolischer Protest, etwa in Form eines Bürgerschaftsbeschlusses gegen Atommülltransporte durch diese Stadt. Und der stand nicht einmal den Verträgen im Wege, die das seit März 1986 sozialdemokratisch regierte Lübeck mit Atomkraftbetreibern abschloß und womit die Rathaus-Grünen Mittwoch abend in einer Bürgerschaftssitzung die SPD wieder einmal zu entlarven versuchte. Zurecht, wie viele der Blockierer meinen, die sich seit Sonntag Mittag und rund um die Uhr vor den drei Toren der BGS-Kaserne aufhalten. Viele Umweltschützer fühlen sich von der Lübecker SPD zudem verschaukelt, weil der Senat noch zu Beginn dieses Jahres mit der AKW-Betreiberfirma Preussen Elektra einen Liefervertrag bis zum Jahr 2007 abgeschlossen hat.

Dennoch stören sie sich nicht daran, oft und selbst nachts prominenten Besuch von Hilpert und anderen lokalen oder schleswig-holsteinischen SPD-Spitzen zu erhalten. Im Gegenteil: Die Blockierer- Gemeinde, gegen Feierabend schwillt sie auf einige hundert Menschen an, zeigt eine politische und soziale Breite, von der in Brokdorf nie und in Gorleben nur selten die Rede sein konnte. Da läuft einem typischen „Szene“- Vertreter, der – die Zeiten sind hart – seine Brötchen in einer stinknormalen Verpackungsfirma verdienen muß, morgens der eigene Chef über den Weg, der dann vormittags im Betrieb seine erste Verspätung nach soundsoviel Dienstjahren offen damit begründet, an der Blockade teilgenommen haben zu müssen. Andere halten auf dem Weg zur Arbeit kurz vor den Kasernentoren an und reichen den übernächtigten und durchgefrorenen Blockierern eine große Tüte Brötchen aus dem Wagenfenster oder bringen heißen Kaffee in Thermoskannen – „Die können wir heute abend wieder abholen“ – vorbei.

Solidarität und Unterstützung allerorten: Die Eltern der benachbarten Thomas-Mann-Schule schicken ihre Kinder seit Mittwoch „wegen der Gefährdung“ demonstrativ nicht mehr zur Schule, und der Schulsenantor findet das in Ordnung. Der Bundesgrenzschutz bekundet seine Sympathie mit dem Anliegen der Blockierer, nachdem sich die „Gemäßigten“ gegen die wenigen Lübecker Autonomen durchsetzten und keine Totalblockade über die Kaserne verhängt wurde – Einheiten dieser Kaserne konnten am Dienstag ungestört aus der blockierten Kaserne nach Hamburg ausrücken und den dortigen Stadtteil Altona anläßlich einer Anti-Gentechnik-Demonstration in eine Polizeifestung verwandeln.

Und im Reigen der Mahner gegen die Auswüchse der Atomindustrie fehlen – wenngleich mit einiger Verspätung – auch die Kirchen und Gewerkschaften nicht. Von der Blockade distanziert hat sich lediglich die Lübecker CDU, aber auch deren Fraktions-Chef Klaus Brock fordert: „Die Transporte müssen so schnell wie möglich heraus aus Lübeck.“ Sie sollen so lange ausgesetzt werden, „bis eine lückenlose Überwachung sichergestellt und die Sicherheitsbedenken ausgeräumt sind“. Brock befindet sich im Einklang mit der noch christdemokratischen Kieler Landesregierung, die sich in der Vorwahlkampfzeit nicht lumpen läßt und bei Bundesumweltminister Töpfer interveniert, daß die drei Laster so schnell wie möglich raus müßten aus Schleswig-Holstein.

Was das für die Blockierer heißt, ist unklar. Nach der Einschätzung Hilperts würden die abziehen, sobald der LKW-Konvoi die Stadt verläßt und einen der drei genehmigten Ausweichstandorte in Hamburg, Bremen oder Cuxhafen ansteuert. Für die Lübecker Grünen, die wie Hilpert die Mehrheit der Blockierer hinter sich wissen wollen, bedeutet dies nur eines: Zurück nach Frankreich, sonst wird weiter blockiert. Dem Adressaten der strahlenden Fracht dürfte dieser Zwist, die Verspätung der Ladung und der Streß von Egon Hilpert sowie die Mühen der Blockierer egal sein: Die schwedische ASEA-Atom würde die 21 Tonnen momentan ohnehin nicht annehmen – dort befindet sich die Belegschaft gerade im Streik.