Die Angst sitzt allen im Nacken

Die alte Dorfkirche Friedrichshain inmitten des Neubaugebiets platzt aus allen Nähten. Über 1.000 Leute sind am Montagabend zu einem Fürbittgottesdienst gekommen. Doch obwohl man mutig unter den Augen der Stasi die Kirche betritt, ist Angst und Frustration zu spüren. Daran können auch die Scherze des Pfarres Gottfried Gartenschläger, dem das wallendem Haar ihm bis weit über die Schultern reicht, nichts ändern. „Weißt du, wo mein Mann ist“, fragt ihn eine Frau im Eingang, „vorhin habe ich ihn noch gesehen“. „Keine Ahnung, vielleicht im Gefängnis“, antwortet Gartenschläger.

Die Szene ist sich an diesem Abend uneinig, wie sie zu den Ausreisewilligen stehen soll und wie sie weiter gegen die Verhaftungen vorgehen soll. Wurden im November anläßlich der Verhaftungen in der Zionskirche sofort Mahnwachen organisiert, ist heute keine Rede davon. Wenigstens eine Koordinierungsgruppe hat sich gebildet, die eine Reihe von Fürbittgottesdiensten organisiert. In ihr sind Vertreter der verschiedensten Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen tätig. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist die praktische Solidarität mit den Gefangenen. Da wird Geld gesammelt, aufgefordert, Postkarten in den Knast zu schicken (Adresse: Berlin 1020, Postfach 81), oder die Betreuung der Kinder organisiert. Eine Frau erntet Applaus für ihren Vorschlag, alle politisch aktiven Eltern sollten Vollmachten für befreundete Familien ausstellen, damit im Falle ihrer Festnahme für die Kinder gesorgt ist. Aktueller Anlaß: Die Kinder der Eheleute Templin sind in ein Heim gekommen.

Besonders viel Beifall bekommt Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der sich sichtlich bis zur Erschöpfung für die Inhaftierten eingesetzt hat. Er berichtet von seinen Gesprächen mit den Inhaftierten. Dabei habe er keine gebrochenen Menschen vorgefunden. „Bruder Schnur“, wie er hier genannt wird, warnt die Anwesenden vor Aktionismus, dies könne vom DDR-Staat als Eingriff in ein schwebendes Verfahren aufgefasst werden.

Ähnlich argumentiert auch Konsistorialpräsident Manfred Stolpe. Dabei findet er unerwartet starke Worte. Die Staatsorgane seien in einer komplizierten Lage, denn: „Wenn sie zuviel durchgehen lassen, sagen die Stalinisten, das habe es zu Ulbrichts Zeiten nicht gegeben. Wenn sie aber hart sind, werden sie als Altstalinisten erster Klasse, wie die in Rumänien, eingestuft.“

Knut Wollenberger, der Mann der verhafteten Vera Wollenberger, macht Mut: „Vor zehn Jahren hätten wir hier nicht so sitzen können. Wir alle haben durch unsere jahrelange Arbeit persönlich viel gelernt. Es ist kaum zu glauben aber auch Vera hat vor ein paar Jahren in Versammlungen nicht die Lippen auseinandergekriegt.“ Alle, die Veras durchdringende Stimme kennen, müssen lachen. Andere sitzen mit Walkmen in der Kirche, denn zur gleichen Zeit überträgt das Westberliner Radio 100 sein „Radio Glasnost“, eine Sendung über die aktuellen Ereignisse in der DDR.

Doch konkret wird an diesem Abend nichts geplant.

Man weiß nicht, wie man sich zur Frage der Ausreisewilligen verhalten soll. Nur als eine Frau berichtet, daß im Westfernsehen ein in Gießen Angekommener berichtet habe, er sei von der Stasi geschlagen worden, wird einmütig festgestellt, daß den Anwesenden von solchen Vorgängen nichts bekannt ist.

Kein Wort fällt zu den Spionagevorwürfen gegen Stephan Krawczyk, obwohl doch bereits die Ost-Berliner „BZ am Abend“ dies auf ihrer ersten Seite gemeldet hatte.

Niemand weiß, wie die politische Arbeit weitergehen wird, welche Freiräume man in Zukunft haben wird. Die Angst vor der eigenen Festnahme sitzt vielen im Nacken.

Später am Abend in einer Kneipe. Am Nachbartisch erzählt einer von der Haftanstalt Rummelsburg. Weißgekalkte Wände, eine Massenzelle. Er berichtet von einem Schließer, der „Deutsche Heldensagen“ in einer Vorkriegsausgabe las. Und er erzählt, daß viele der festgenommenen Ausreisewilligen bei den politisch Aktiven nicht bekannt seien.

Doch an einem anderen Tisch sitzt eine, die alle kennen. Ihr Mann ist bereits im Flüchtlingslager Gießen, morgen wird sie ihm folgen. Ein letztes Bier am Prenzlauer Berg, Tränen und das Versprechen: „Ich schreibe dir, wenn ich mal in Warschau bin.“ Brian Schuster