Polens Regierung zieht die Preisschraube an

Lebensmittelpreise um 40 Prozent erhöht / Weitere drastische Preisanstiege für März bei Brennstoffen erwartet / Solidarnosc organisierte Protestdemos in einigen Städten / Die Bevölkerung fühlt sich verschaukelt / „Das hungrige Volk wird die Staatsmacht fressen“  ■ Aus Warschau Roland Hofwiler

Eine der drastischsten Preiserhöhungen in der Geschichte Polens trat gestern in Kraft: alle Produkte, von Lebensmitteln bis hin zu Industrieprodukten verteuerten sich zwischen 40 und 100 Prozent. Es ist die dritte Preiserhöhung seit Verhängung des Kriegsrechts 1981. Und wie immer, wenn in Polen die Preisspirale angehoben wird, gingen in mehreren Städten die Menschen auf die Straße. Den Auftakt bildete auch diesmal wieder die Solidarnosc- Hochburg Danzig, wo bereits am Sonntag abend 3.000 Anhänger der verbotenen Gewerkschaft mit Plakaten wie „Weg mit den Preiserhöhungen“ und „Das hungrige Volk wird die Staatsmacht fressen“ friedlich demonstrierten, gewaltsam aufgelöst wurden dagegen Protestdemos in Warschau und Breslau. Die Polen fühlen sich hintergangen. Bekanntlich hatten sie am 29.November bei einer Volksabstimmung den Vorschlag der Regierung mehrheitlich abge lehnt, zur angeblich schnellen Gesundung der Wirtschaft die Preise um durchschnittlich 47 Prozent anzuheben.

Im Dezember hatte die Regierung noch mehrmals beteuert, man werde auf „Die Stimme des Volkes achten“, die Preise langsamer als vorgesehen anheben und sich mit einem Preisschub von 16 Prozent zufriedengeben. Gestern meldeten nun alle Parteizeitungen, im November habe eine Diskussion um eine Preiserhöhung von 110 Prozent zur Debatte gestanden, man habe sich dem Volkswillen gebeugt und sich mit einer Teuerungsrate von durchschnittlich 47 Prozent zufriedengegeben. Entgegen dieser Verlautbarung der Parteiblätter war nie von 113 Prozent Teuerung die Rede gewesen. Als Obermaß galten 47 Prozent, was bei der Volksbefragung abgelehnt wurde. „Die spielen mit dem Feuer, die Parteiherren“, sagt ein Passant in Warschau und ein Arbeiter: „Totale Volksverarschung“. In einer Fernsehdiskussion am Samstag abend, an der auch die Minister des Finanz- und Sozialministeriums beteiligt waren, hagelte es unbequeme Fagen. Wie denn besonders Rentner mit den nur 3.200 ge währten Ausgleichs-Sloty auskommen sollten? „Sind wir denn Parias?“ fragte einer.

Milch, Käse, Fleisch sind seit Montag um 40 Prozent teurer, außerdem wurden die Preise für Benzin um sechzig und für Diesel um 100 Porzent erhöht. Fahrkarten für Züge und Fernbusse kosten 50 Prozent mehr. Ebenso viel mehr müssen die Polen für Miete, Post und Telefon bezahlen. Weitere Preiserhöhungen folgen zum 1.März, einen Monat später sind drastische Erhöhungen für Strom und Gas um 100 und für Kohle gar um 200 Prozent angekündigt. Ein Absinken der Einkommen soll durch Teuerungszulagen und Familienzuschüsse verhindert werden, so die Regierung. Danach erhält seit Montag jeder Arbeitnehmer eine Lohnzulage von 6.000 Zloty, umgerechnet 39 Mark. Der durchschnittliche Monatslohn entspricht knapp 160 Mark, die Teuerungsrate wird also mit der Zulage nicht kompensiert. Unabhängige Ökonomen berechneten, daß die Zulagen mindestens um 16.000 Zloty hätten angehoben werden müssen, um den Lebensstandard zu halten. Man kann aber im streikfreundlichen Polen mit baldigen neuen Unruhen rechnen.