„Symbolische Erklärung des Bürgerkriegs“

■ Interview mit Meron Benvenisti, ehemals stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem und heute Leiter des „Westbank Data Projects“, über den palästinensischen Aufstand und die Perspektiven Israels / Seine „Traumlösung“: eine Teilung des Landes oder der Macht oder eine Kombination von beidem

taz: Sie bezeichnen den palästinensischen Aufstand im israelisch besetzten Gaza-Streifen und der Westbank als den Beginn eines Bürgerkriegs. Warum?

Meron Benvenisti: Ich spreche von einer symbolischen Erklärung des Bürgerkriegs. Der Beginn dieser neue Phase eines im Inneren geführten Bürgerkriegs läßt sich auf die Zeit des Krieges im Libanon (1982) ansetzen. Externe Faktoren spielen noch eine große Rolle, aber es sind die inneren Kräfte, die Spaltungen zwischen zwei Völkern, die jetzt stärker im Zentrum des Problems stehen als der Konflikt zwischen Staaten.

Normalerweise hält man den israelisch-arabischen Konflikt für einen zwischenstaatlichen Konflikt, aber er hat nicht als solcher begonnen. Diese Wahrnehmung des Problems ist eine bequeme israelische Sichtweise. Ein interessantes Bespiel dafür ist, wie die Israelis den Unabhängigkeitskrieg (1948) auffassen, nämlich als die Invasion von fünf arabischen Armeen. Damit soll die schlimmere und vielleicht kritischere, frühere Phase des palästinensisch-jüdischen Bürgerkriegs zwischen November 47 und Mai 48 an jeder Straßenecke verdrängt werden.

Es handelt sich hier um einen Konflikt zweier nationaler Gemeinschaften. Diese Definition beinhaltet nicht nur das Streben nach einer Sezession, sondern auch eine tiefgreifende Legitimitätskrise. Die eine – israelische – Seite weigert sich, der anderen – palästinensischen – ihre Legitimität als Kollektiv zuzugestehen, und diese wiederum weigert sich, das System Israels als legitim anzusehen. Darin liegt der grundsätzliche Unterschied zu einem Konflikt zwischen Staaten begründet, der zwischen zwei gleichberechtigten Gegnern angesiedelt ist.

Ist die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) für Sie Teil des Konflikts zwischen den beiden nationalen Gemeinschaften oder eine außenstehende Kraft?

Die PLO ist Teil des Konflikts. Der Kampf wird heute von denen ausgetragen, die in Israel und den besetzten Gebieten geblieben sind. Der Versuch der PLO, ein äußeres Zentrum zu schaffen, von dem aus sie sich am Kampf beteiligen kann, einen Zufluchtsort mit einer territorialen Basis, war meiner Meinung nach ein Fehler. Diese Phase war vorbei, als Sharon den Libanon besetzte.

Was die heutige Situation anbelangt, so steht außer Frage, daß die Ursache der Revolte im Gefühl der Frustration der Menschen in den besetzten Gebieten liegt, im Innern, wie die Palästinenser sagen. Sie mußten ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen und können nicht auf einen Retter von außen hoffen.

Wie stehen die Palästinenser in den besetzten Gebieten zur PLO?

Es gibt eine hundertprozentige Unterstützung und Solidarität mit der PLO im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Nation, die von der PLO und Arafat als ihr Symbol repräsentiert wird. Gleichzeitig gibt es, wie bei jeder anderen Regierung auch, eine Desillusionierung über die Praxis, die Institutionen der PLO.

Nationalismus und Fundamentalismus

Im Westen wird viel über die Zunahme des islamischen Fundamentalismus unter den Palästinensern gesprochen. Wie würden Sie die Rolle der Fundamentalisten bei der Revolte einschätzen?

Der Westen und Beobachter suchen gerne Ausflüchte, damit sie sich nicht dem tatsächlichen Problem stellen müssen, Ausflüchte wie den Fundamentalismus, ge gen den sich dann alle vereinigen können. Ich halte das nicht für so bedeutend, denn dabei geht es um den Ausdruck einer noch größeren Verzweiflung der zornigen jungen Männer, die den Nationalismus aufgegeben haben, da ihnen die nationalistischen Symbole nichts mehr einbringen. Aber der politische Ausdruck von beiden Strömungen ist der gleiche. Ich laufe nicht in die Falle israelischer Offiziere, die bis vor einem Jahr gedacht haben, eine Förderung der Fundamentalisten würde diese zu Verbündeten gegen die PLO in den Flüchtlingslagern machen. Ich würde keinen Zentimeter eines Tonbandes und keine Tinte dafür verschwenden, die Unterschiede zwischen den Nationalisten und den Fundamentalisten zu betonen. Es gibt Unterschiede, und vielleicht werden sie im Laufe der Zeit größer, aber für die Erklärung des Bürgerkrieges oder den ethnischen Konflikt ist das meiner Meinung nach nicht bedeutsam.

Gab es während der jüngsten Bewegung Kräfte, die den Status quo, die Besatzung, infrage stellen könnten?

Als Historiker oder Analytiker gehe ich davon aus, daß der Status quo nicht erschüttert wird, ganz im Gegenteil, die Israelis werden sich daran festbeißen. Schon sehr bald werden die Palästinenser eine Greueltat an Zivilisten begehen. Das liegt in der Natur der Dinge. Die Leute sagen: Die Palästinenser haben sich in den letzten sechs Wochen sehr zurückgehalten, keine einzige Patrone abgefeuert und keinen Anschlag verübt. Ich glaube, mehr können sie nicht aushalten. Wir erwarten jeden Tag ein Ereignis, das die Dinge umkehren und den Israelis ermöglichen wird zu sagen: Seht ihr, diese Leute sind Mörder. Dann wird sich die öffentliche Meinung im Ausland einmal mehr gegen die Palästinenser wenden.

Derzeit ist die Koalitionregierung aus der Arbeiterpartei und dem Likud-Block bei der Suche nach einer Lösung politisch blockiert. Werden die Parlamentswahlen im Herbst eine Änderung bringen?

Die Wahlen werden überhaupt nichts ändern. Die Israelis lieben die „Regierung der Nationalen Einheit“ mittlerweile so sehr, daß sie an der Macht bleiben wird. Die Israelis haben eine sehr gute Art und Weise gefunden, wie sie allen politischen und grundsätzlicheren Fragen aus dem Weg gehen können, obwohl sie gleichzeitig aufschreien, daß die Koalition ein Rezept für Stagnation und politische Lähmung sei. Aber im Grunde wollen sie es so.

Araber in Israel: doppelte Loyalität

Welche Bedeutung messen Sie dem Schritt des einzigen arabischen Knesset-Abgeordneten der Arbeiterpartei, Abdel Wahab Darausche, zu, der aus Protest gegen die Politik von Verteidigungsminister Rabin in den besetzten Gebieten aus der Partei ausgetreten ist?

Das wird zu einer wirklichen Herausforderung für die zionistischen Parteien in Israel werden. Wie werden sie einen Araber behandeln, der gemäßigt und in Israel aufgewachsen ist und der sich als loyaler israelischer Bürger versteht? Gleichzeitig hält er sich für einen loyalen Sohn der palästinensischen Nation. Ich befürchte, daß die Israelis ihn als einen extremistischen Unterstützer der PLO hinstellen und versuchen werden, ihm jede Legitimität abzusprechen. Wenn Darausche mutig genug ist – vielleicht noch nicht bei diesen Wahlen, aber 1992 –, einen nationalistischen arabischen Block zu bilden, der, was die Existenz Israels anbelangt, eine vernünftige politische Linie einschlägt und nur Gleichheit für die arabischen Bürger Israels fordert, dann werde ich mit großem Interesse die israelische Reaktion beobachten. Wenn die Reaktion Israels so ausfallen wird, wie ich befürchte, dann werde ich einen guten Grund haben, noch pessimistischer zu sein als bisher.

Wie hat Israel auf den Solidaritätsstreik israelischer Araber mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten reagiert?

Erstens wurde die grüne Linie (zwischen Israel in seinen Grenzen vor 1967 und den besetzten Gebieten, d.Red.) ausradiert. Zweitens lautet die Botschaft der Araber Israels: Ihr fürchtet, daß wir Jaffa und Haifa haben wollen, aber wir sind schon da. Die pathetischste Reaktion wurde durch eine relativ kleine Demonstration in Jaffa ausgelöst, die in der hebräischen Presse auf einer ganzen Seite abgehandelt wurde. Die Aussage lautete: Wie können sie es wagen, im Herzen Tel Avivs zu demonstrieren? Außerdem war die Hauptverbindgungsstraße in den Nordosten wegen Auseinandersetzungen für zwei Stunden gesperrt. Das hat die Israelis erschreckt und erregt, denn sie dachten, der Aufruhr beschränke sich auf die Westbank und den Gaza- Streifen. Nun mußten sie feststellen, daß sie das gleiche Problem in ihrer Mitte haben.

Wie alle derartigen Schocks hat diese Erkenntnis nicht in Richtung auf eine Versöhnung geführt, sondern ganz im Gegenteil, zu Angst und Panik. Dieser sehr erfolgreiche Solidaritätsstreik war auch der Grund, warum Darausche seinen Schritt machen konnte. Damit wird die ganze Angelegenheit auf die politische Ebene gebracht, wo sich die Israelis der Herausforderung stellen müssen.

Horizontale oder vertikale Teilung

Was wäre Ihr Traum einer Lösung?

Antwort: Entweder, man teilt das Land horizontal oder man teilt es vertikal. Entweder sagt man, dieses Stück gehört euch, oder man teilt die Macht, oder man entwickelt eine Kombination von beidem, eine Kantonisierung, Autonomie, oder Machtteilung wie in Belgien, der Schweiz oder Beirut.

Es gibt keine andere Möglichkeit, weil es keinen demokratischen Prozeß gibt, der auf wechselnden Koalitionen beruht. Wenn entlang der ethnischen Zugehörigkeit gewählt wird, gibt es keine Änderung. Juden werden nur für zionistische Parteien stimmen, Araber nur für arabische, und eine Koalition wird es nicht geben, weil die Juden auf der Tyrannei der Mehrheit instistieren werden. Die Araber werden das Wahlrecht haben, aber außerhalb des politischen Prozesses stehen.

Theoretisch betrachtet, ist eine Teilung für einen bürgerkriegsähnlichen Konflikt zwischen zwei Gemeinwesen die bessere Lösung, aber ich wäre der erste, der begründet, warum das nicht praktikabel ist.

Sie haben gesagt, Sie möchten ihre Arbeit bis 1990 fortsetzen und dann ein Restaurant eröffnen, falls sich ihre Landsleute der grundsätzlichen Alternative – jüdischer oder demokratischer Staat – bis dahin nicht stellen. Sehen Sie eine politische Gruppe, von der eine Änderung des Status quo ausgehen könnte?

Derzeit gibt es keine wirkliche Herausforderung des Status quo. Sie kann paradoxerweise nur von den Palästinensern kommen. Obwohl sie schwach und hilflos sind, sind sie die einzige Gruppe, die die Besatzung infrage stellen kann. Nicht durch einen Aufstand, weil die Positionen Israels dadurch nur verhärtet werden, sondern auf andere Weise. Der einzige Weg, der die Israelis dazu bringen könnte, die Kosten der Besatzung zu begreifen, wäre, daß die Palästinenser sich bemühen, ihr demographisches Gewicht in die Waagschale zu werfen. Sie müssen Israel mit der Frage konfrontieren: Entweder ihr annektiert uns oder ihr zieht euch zurück.

Und die israelische Linke?

Die israelische Linke ist vielleicht noch konservativer als die Rechte. Der emotionale Rückbezug auf alte Werte ist die konservativste Parole, die ich je gehört habe. Es gibt die paradoxe Situation, daß linke, radikale Gruppen in den Status quo ante verliebt sind. Sie weigern sich zu akzeptieren, daß es eine Rückkehr zum Status quo vor 1967 nicht geben wird, man 20 Jahre nicht einfach ausradieren und zur guten alten Zeit zurückkehren kann, die selbst damals nicht gut war. Ihren Mythen zufolge war die Phase vor 1967 die Zeit, wo sie ihre widersprüchlichen sozialistischen und patriotischen Werte miteinander versöhnen konnten. Dinge, an die sie sich nicht gerne erinnern, wie der Krieg von 1948, die Landnahme, die Bekämpfung von Arabern in Israel, haben sie verdrängt. Sie haben das Jahr 1967 als politischen Ausgangspunkt gewählt, daher ist die gute alte Zeit für sie eine Frage des Glaubensbekenntnisses.

Die politische Szene in Israel wird von der Mitte dominiert, der breiten politischen Kraft, die mit der Koalitionsregierung identisch ist. Für mich gehören Ministerpräsident Shamir und Außenminister Peres beide zu denen, die am Status quo festhalten wollen. Wenn es zu einer Infragestellung des Status quo kommen sollte, dann eher von seiten der Rechten als der Linken, denn die Linke ist in ihren eigenen Streitereien und Mythen verfangen. Das Gespräch führte Beate Seel