Unkraut im blühenden „Glasnost“-Garten

Ein grundsätzlicher Beitrag der Prawda versucht eine Bestandsaufnahme der sowjetischen Bürgerinitiativen / „Antisemitische und großrussisch-chauvinistische“ Tendenzen dienen als Aufhänger, um auch andere unerwünschte Tendenzen an den Pranger zu stellen  ■ Aus Moskau Alice Meyer

Um die politische Landschaft der Sowjetunion außerhalb der „staatstragenden“ KPDSU ging es in einem Grundsatzbeitrag des Parteizentralorgans Prawda vom 1.Februar 1988. In dem mit „Wladimir Petrow“ gezeichneten Artikel heißt es: Während früher jede Bürgerinitiative alle möglichen behördlichen Instanzen bemühen mußte, um legal arbeiten und sich mit Wort und Tat an die Öffentlichkeit wenden zu können, habe sich die Lage nach dem April- Plenum des ZK 1985 und dem 27.Parteitag 1986 grundlegend geändert. „Nicht zufällig sind in verschiedenen Landesteilen, vor allem in den großen Zentren, verschiedenartige soziale Clubs und Vereinigungen, darunter der Jugend, in Erscheinung getreten.“

Haupttenor des Beitrags: Es gibt gute und schlechte Bürgerinitiativen. Die „guten“ setzen sich aus Leuten zusammen, „die die Perestroika mit ihren Kenntnissen, ihrer Erfahrung und ihrer Energie unterstützen“. Regionale Bewegungen hätten es geschafft, eine Reihe positiver Beschlüsse von Partei- und Staatsorganen durchzusetzen: über die Beendigungen der umweltbedrohenden Flußumleitungsprojekte in mehreren Unionsrepubliken, über späte (hoffentlich nicht zu späte) Vorkehrungen zur Rettung des Baikal-Sees. Gerade in Umweltfragen fand die „kompromißlose Haltung“ von Bürgerinitiativen bei Partei und Sowjets „entschiedene Unterstützung“. Freundliche Unterstützung erfahren auch Aktivisten gegen „Trunksucht und Bürokratismus“ sowie „militär-patriotische und internationale Klubs“, die Staatsorgane zählen „mehr als 30.000 autonome Gruppen und Vereinigungen“.

Sehr schnell kommt der Autor nun zur Sache: zu den politischen Unkräutern in dieser üppig sprießenden Gartenlandschaft. Zu den mißliebigen Gewächsen gehört vor allem die sogenannte „pamjat“-Gruppe. Sowjetbürger, zu dieser gruppe befragt, äußern sich unterschiedlich: Die einen lehnen sie als „antisemitisch“ und „großrussisch-chauvinistisch“ ab, die anderen bekennen sich mehr oder weniger offen zu ihr, da sie für die Erhaltung der Kulturdenkmäler und für die Bekämpfung der Trunksucht eintrete.

Nach offizieller sowjetischer Darstellung ist die „pamjat“- Gruppe Anfang der Achtziger Jahre als „Vereinigung Moskauer Historiker, Wissenschaftler, Ingenieure, Arbeiter und Studenten beim Ministerium für Flugzeugindustrie“ entstanden. Ihre ursprünglichen Ziele und Forderungen seien ehrenwert und uneigennützig gewesen: Restaurierung historischer Gebäude, Rettung des historischen Stadtkerns der Hauptstadt vor dem Kahlschlag der Bau- und Montagekombinate. Auch der Sorge der „pamjat“- Leute um die demographische Lage Rußlands, über den Verfall vieler Dörfer und den Zustand der sogenannten Nichtschwarzerdezonen müsse Verständnis entgegen gebracht werden.

„Radikale Veränderung“ gab es, so die Parteizeitung, vor „annähernd zwei Jahren“, eine „kleine extremistische Gruppe“ habe den Namen der Vereinigung „gestohlen“, sich der Organisation bemächtigt und „pamjat“ in der Öffentlichkeit kompromittiert. Der Haupttäter: Dmitrij Wassiljew, Photograph, Schauspieler und ehemaliger Mitarbeiter des inzwischen verstorbenen russischen Malers Glasunow.Das Weltbild dieses „Inhabers achtklassischer Schulbildung“ sei kleinbürgerlich-nationalistisch. Auf die Frage: Wer bedroht die Heimat? gebe er die Antwort: „Zionisten und Kosmopoliten“. Er und Gleichgesinnte wollten im sowjetischen Volk „antisemitische Strömungen“ wecken, Antisemitismus und Chauvinismus seien aber „unserem Volk und der Natur des Sozialismus selbst immer fremd“ gewesen.

Nun soll es in „pamjat“ tatsächlich antisemitische und nationalistische Wirrköpfe geben. Unsauber ist aber der Versuch des Parteizentralorgans, andere oppositionelle Leute und Strömungen pauschal auf eine Stufe mit solchen Scharfmachern zu stellen.

Dazu gehört zum Beispiel der ehemalige Iswestja-Korrespondent in Bonn, Grigorjanz, der kürzlich eine unabhängige Journalistengewerkschaft gründete und die regimekritische Zeitschrift Glasnost herausgibt. Grigorjanz soll inzwischen laut Prawda wegen „Straftaten und antisowjetischer Tätigkeit“ vor Gericht gestanden haben. Glasnost berichtete wiederholt über Menschenrechtsverletzungen und politische Gefangene in der UdSSR. Das maschinengeschriebene Bulletin soll auch einen „offenen Brief“ von Arbeitslosen veröffentlicht haben, die durch prinzipielle Kritik am Bürokratismus in ihrem Lande Nachteile hatten hinnehmen müssen.

Aber diejenigen, für die sich Glasnost einsetzt, seien, so jener Wladimir Petrow in der Prawda, wegen gewöhnlicher Straftaten, wie zum Beispiel Unterschlagung sozialistischen Eigentums, verurteilt oder als „Faulenzer und Disziplinverletzer“ berüchtigt. Gesamturteil: Glasnost ist das Bulletin eines Kriminellen für Kriminelle.