„Wir sollten uns nicht auf Einzelne verlassen“

Betroffenheit und Verwirrung in der Ost-Berliner Gethsemane-Kirche / Hat die „Betonfraktion“ im Staatsapparat gesiegt?  ■ Aus Ost-Berlin K. Schmutz

„Wir haben viel gelernt in diesen Tagen. Wir haben gelernt, daß es keine Helden gibt und wir uns nicht so sehr auf einzelne Personen verlassen sollten.“ Die Worte der jungen Pfarrerin finden heftigen Beifall. Rund 3.000 Personen haben sich an diesem Abend in der Ost-Berliner Gethsemane-Kirche zu einem „Info-Gottesdienst“ eingefunden. In dicken Trauben drängen sie sich in den Gängen, um den Altar herum und auf den Emporen bis unters Dach. „Ich habe heute meinen schwarzen Talar an, um deutlich zu machen, daß es sich hier um keine Agitprop- oder Solidaritätsveranstaltung, sondern um einen Gottesdienst handelt“, hat die Pfarrerin gleich am Anfang den Rahmen der Versammlung gesteckt. Aber die Leute wollen mehr als singen und beten. Sie sind hergekommen, um zu erfahren, was dran ist an den Behauptungen und Gerüchten, die sich seit der Ausreise von Stephan Krawczyk, Freya Klier und den anderen überstürzen.

Offensichtlich werden sie von vielen hier geteilt. Nach der Erbauung, nach den Appellen an den Dialog und die Solidarität (“Herr wir gehen Hand in Hand“) folgen im zweiten Teil der Andacht die „Infos“: Unter brausendem Applaus ergreift Rechtsanwalt Schnur als erster das Wort. Der Mann hat Kredit, das ist deutlich zu spüren. Müde wirkt er heute, ist auch nicht mehr „entsetzt“ nur noch „enttäuscht“ über Stephan Krawczyk und Freya Klier und ihr Auftreten im Westen. Noch einmal betont er, daß die beiden den anderen Inhaftierten geschadet haben. Daß man nun nicht mehr davon ausgehen könne, daß sich Vogels Zusage – die Freilassung der Übrigen bis zum Wochenende in ein Land ihrer Wahl – erfüllen könne. Es zeichneten sich jedoch gewisse Chancen ab, daß ein oder mehrere der jüngeren Inhaftierten demnächst freikämen. Und er appelliert – angesichts der zahlreich versammelten Westpresse – an Freya Klier und Stephan Krawczyk: Haltet euren Mund so lange bis die anderen frei sind. Um diese Zeit muß Krawczyks neuerliche Erklärung aber bereits im ZDF gelaufen sein.

Generalsuperintendent Günther Krusche kündigt bisher Ungehörtes an: Unter seiner Schirmherrschaft will die Kirche eine Kontaktstelle einrichten für diejenigen, die ausreisen wollen. „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“, heißt das hier. „Wir sind keine Agentur für ausreisewillige Bürger“, stellt Krusche klar, und er sei traurig über jeden, „der weg will“. Aber zumindest seelsorgerisch müsse die Kirche jedem helfen. Ist das der Kompromiß für den Konflikt, der zwischen „Ausreisewilligen“ und denjenigen, die „unser Land“ nicht verlassen wollen, immer heftiger zu werden scheint?

Immerhin hatte ein Pfarrer vergangene Woche während eines Fürbittgottesdienstes deutlich zu verstehen gegeben, daß diejenigen, die sich der Bewegung nur anschlössen, um schnell in den Westen zu gelangen, in der Kirche nichts zu suchen hätten. Schwierig, die Zwischentöne zu interpretieren. Die Menschen ringsherum sind zurückhaltend, weichen Fragen aus. Unauffällig gekleidete Herren, die eifrig alles mitschreiben, scheinen als Ansprechpartner ebenfalls ungeeignet.

Er wolle einen anderen Ton einschlagen als bisher, kündigt Uwe Kolbe an, ein junger DDR-Dichter. Er rechnet ab mit der „Toleranz“ der Staatsmacht gegenüber „Strauß, dem Deutschen Industrie- und Handelstag“ und beim „Verkauf von Staatsbürgern in den Westen“. Gleichzeitig würde im „preußischen Idyll“ jegliche innere Kritik mit „flächendeckender Ordnung und Sicherheit“ und „Staatseigentum am Menschen“ im Keim erstickt.

Die bessere Zukunft, die der Staat seit 40 Jahren verspreche, könnten sich nur Leute leisten „mit Westdevisen oder Parteiverdiensten“. Mit jedem Satz wächst der Beifall. Hinter dem Rednerpult wird es unruhig. Man will, daß der Dichter zum Schluß kommt. Der aber hat sich in den Kopf gesetzt, „das hier und nicht vor den Westmedien zu sagen“.

Ein Pfarrer versucht, die Begeisterung zu dämpfen, den Rahmen wieder herzustellen. Er teile ja vieles von Kolbes Ansichten. Aber so auftreten könne er nur, weil er in drei Tagen wieder weg sei. Uwe Kolbe hat ein dreijähriges Besuchsvisum für die BRD.

„Du laß dich nicht verhärten,“ gibt ein Mann mit Gitarre der Gemeinde mit auf den Heimweg. Während sich vorne am Altar die Medien und andere neugierige LauscherInnen um Schnur und Krusche drängen, haben sich vor der Kirche kleine Gruppen gebildet, die leise miteinander reden. Ratlosigkeit und offene Fragen überwiegen. Obwohl mancher hier aus eigener Erfahrung weiß, mit welchem Druck der Staatsapparat arbeitet, hat niemand gefragt, ob die beiden denn wirklich freiwillig gingen. Kein Wort darüber, ob der Keil, der da zwischen die entthronten HeldInnen und die Bewegung getrieben wird, nicht Teil des Verhandlungspokers ist. Es sieht schlecht aus, wird vorsichtig signalisiert. Und viele haben die Hoffnung aufgegeben, die inhaftierten FreundInnen bald wiederzusehen. Die „Betonfront“ im Staatsapparat scheint gesiegt zu haben.