SPD-interne Kritik an Sicherheitspolitik

Hermann Scheer, Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ nennt SPD-Positionen „nicht ausreichend vertieft“, mit der Folge, „daß wir konzeptionell schwimmen“ / Die Haltung der SPD zur atomaren Abschreckung ist demnach ungeklärt  ■ Aus Bonn Ursel Sieber

Seit der Auseinandersetzung um die Pershing-Stationierung gibt es in der SPD um die Sicherheitspolitik scheinbar keine Kontroversen mehr. Und im Bundestag waren SPD-Politiker zuletzt meistens bemüht, die Gemeinsamkeiten mit den Regierungsfraktionen herauszustellen.

Jetzt hat der SPD-Abgeordnete Hermann Scheer ein internes Diskussionspapier verfaßt, welches den neuen Konsens mit der FDP und der Union infragestellt, und darüberhinaus zum Ausdruck bringt, daß partei-intern die Differenzen sehr viel tiefgreifender sind.

Hermann Scheer artikuliert damit ein Unbehagen, über das bislang wenig nach außen drang, das bei einigen Sozialdemokraten vom „linken“ Flügel jedoch schon länger zu spüren ist.

Personell zielt die Kritik auf die tonangebenden Sicherheitspolitiker der SPD – auf Egon Bahr und Horst Ehmke. Intern war immer wieder zu vernehmen, daß Bahr und Ehmke zu viel Rücksicht auf die „Atmosphäre“ der Gespräche mit den französischen Sozialisten nehmen und vor allem Bahr die französische Atomstrategie weniger scharf kritisiere. Maßgeblich ist jedoch sicherlich auch die Befürchtung, die SPD könnte im Falle einer kritischeren Haltung zur deutsch-französischen Zusammenarbeit von der CDU als Partei hingestellt werden, die sich in der Sicherheitspolitik nun völlig isoliert habe.

Ohne Namen zu nennen hat Hermann Scheer dieses Unbehagen an der sozialdemokratischen Sicherheitspolitik deutlich zu Papier gebracht: Obwohl die SPD weitergedacht habe als andere Parteien, seien eine Reihe von Po sitionen „nicht ausreichend vertieft worden“, schreibt der SPD- Politiker. „Die Folge ist, daß wir in manchen Punkten konzeptionell schwimmen“, so Scheer.

Als erstes Beispiel führt Scheer das von der SPD propagierte Ziel der „Selbstbehauptung Europas“ an: Da habe die SPD nicht herausgearbeitet, daß es „zwei prinzipiell unterschiedliche Ansätze der Selbstbehauptung Westeuropas“ gebe: Einen, wie Scheer sagt, „reaktionären Weg der Selbstbehauptung Europas“, der darauf abziele „künftig wegfallende amerikanische Militärpotentiale einschließlich Nuklearwaffen durch eigene westeuropäische Potentiale zu ersetzen“. Und den sozialdemokratischen Weg der „Selbstbehauptung Westeuropas“, der dagegen auf „eine schrittweise Entmilitarisierung der Blockstrukturen mit Hilfe von Abrüstungsschritten“ hinauslaufe. Diesen Unterschied mache die SPD nicht deutlich, und deshalb „können gegenwärtig unter einem von uns mitgeprägten Begriff auch reaktionäre Blüten treiben, ohne daß das von der Öffentlichkeit in aller gebotenen Deutlichkeit erkannt wird“.

Dann kritisiert der SPD-Abgeordnete die Haltung seiner Partei zur deutsch-französichen Zusammenarbeit: Auch die SPD betone, daß die Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen notwendig sei. Die „politische Linke“ stehe dem offen gegenüber, „weil dies den durch Nachrüstung, AirLand Battle, SDI und Nicaragua sprießenden anti-amerikanischen Stimmungen entgegenkommt“.

Aber die SPD erörtere „die Tragfähigkeit des deutsch-französischen Ansatzes für die Realisierung sozialdemokratischer Ziele zu wenig“. So besitze die SPD kein Konzept, um zu verhindern, „daß die französische Veto- Position gegen weitere Abrüstungsschritte mehr Einfluß auf Europa bekommt und sogar amerikanische Abrüstungsbereitschaft durchkreuzt“.

Und der Partei fehle ein Konzept um zu vermeiden, „daß die Bundesrepublik in den Sog der französischen Atomstrategie hineingezogen wird“, bis ein solcher Prozeß nur noch um den Preis einer „tiefen Zerrüttung der deutsch-französischen Beziehungen unterbrochen werden könnte“. Scheer fordert deshalb von seinen Genossen „Distanz zu den Plänen Kohls und eine eigene Position zu den deutsch-französischen Beziehungen“. Die SPD müsse vermeiden, „in die parteipolitische Falle eines Gemeinschaftspathos zu gehen“. Denn: „Was wir jetzt nicht ansprechen, um nicht anzuecken, kann in Zukunft zu einer immer bitteren Kröte werden“. Je mehr die SPD den Akzent auf die außenpolitische Gemeinsamkeit aller Parteien legt, desto mehr werde die Partei in eine außenpolitische Rolle gedrängt, in der sie sich nur noch „überflüssig“ oder „unmöglich“ machen könne. Scheer fordert deshalb „nur solche deutsch- französischen Sicherheitsbeziehungen, die einer Denuklearisierung nicht im Wege stehen“.

„Ungeklärt“, weil bisher nicht ausdiskutiert, „ist auch unsere Haltung zur atomaren Abschreckung“, meint Scheer. Bisher bleibe „offen, ob, in welcher Weise und wie lange wir noch am Abschreckungsprinzip festhalten sollten“. Folglich tue sich die SPD auch schwer „bei der Formulierung einer Abrüstungsstrategie und der Frage, ob ein Junktim zur konventionellen Abrüstung bestehen soll“.

Und es heißt weiter: „Diese Unklarheiten sind vorhanden, obwohl klar ist, daß eine stringente Konsequenz aus unserer Haltung zur Nichtverbreitung (der Atomwaffen, die Red.) allein in der Absage an die Abschreckung liegt – und daß das Festhalten an ein wie auch immer geartetes atomares Abschreckungsprinzip in den 90er Jahren die Tür zur Vermehrung der Atomwaffenstaaten immer weiter öffnet.“

Die SPD müsse ihre außenpolitische Position „neu profilieren“. Doch die Partei stehe vor dem Dilemma, „daß ihre Vorstellungen zumindest partiell übernommen werden.“ Scheer bezieht sich zuerst auf „den Kurs von Außenminister Genscher, der in fast allen wesentlichen Fragen Positionen und Begriffe der SPD demonstrativ übernimmt“. Dies habe der FDP bei der letzten Bundestagswahl einen Stimmenzuwachs „zu Lasten der CDU/CSU und der SPD“ eingebracht. Gleichzeitig versuchten jetzt die Unionsparteien, die Fehler aus den sechziger Jahren nicht mehr zu wiederholen. Die „alte Ost-West-Konfliktrethorik“ habe ihnen noch im Bundestagswahlkampf 86 geschadet – inzwischen habe die Union offensichtlich die „parteistrategischen Nachteile“ erkannt. Die Union versuche langsam in „eine aktive Rolle bei der Umstrukturierung des Ost-West-Verhältnisses“ zu schlüpfen, weil sie sich davon wahltaktische Vorteile gegenüber der FDP und SPD erhoffen könne.