Opfer-Lust oder Verschwendungs-Sucht / Widerspruch des Kapitalismus im Weltmaßstab

■ Die ökonomischen Machtkämpfe der achtziger Jahre bringen die Wiederkehr des Verdrängten / James OConnor, US-Marxist und Ökonomieprofessor an der Universität von Kalifornien behauptet: Die Konfliktlinien von heute sind ein Recycling der Frontstellungen des Zweiten Weltkrieges

Die Börse repräsentiert die Psychostruktur des Geldes. Die Ängste, Tagträume und Neurosender Welt bahnen sich ihren Weg zur Wallstreet, dem Kassenbuch für das „ökonomische Unbewußte“ im Weltmaßstab. Die plötzliche Angst, die die Investoren am 19. Oktober in Panik auf die Couch trieb, war ausgelöst worden durch die Wahrnehmung, daß die Gruppe der Sieben einmal mehr versagt hatte darin, ihre Einzel- und Kollektivneurosen zu bewältigen und ihre inneren und äußeren Konflikte auf „gesunde“ Art zu lösen.

Insbesondere waren es Japan, die Bundesrepublik und die USA, die das Louvre-Abkommen vom Februar 1987 entwerteten. Dieses Abkommen hatte die Industrienationen darauf verpflichtet, den Dollar zu stabilisieren, eine Aktion, ausgerichtet darauf, den Beteiligten mehr Zeit zu verschaffen: der US-Regierung für die Reduzierung ihres Defizits und den Japanern und den Deutschen (letztlich auch Europa insgesamt) dafür, ihre Binnenmärkte anzukurbeln. Aber die Umsetzung der diversen Versprechungen fand nicht statt.

Stattdessen fiel der Dollar zwischen Februar und Oktober weiter, wurde mehr „exzessive Liquidität“ in asiatischen und europäischen Händen geschaffen, die dann von ausländischen Investoren in Aktien- und Anleihe- Märkte gepumpt wurde. Der Börsen-Boom war gigantisch,aber jeder wußte, daß das nicht von Dauer sein konnte. Der Markt selbst würde zur „Korrektur“ gezwungen sein, Ersatzhandeln für die Unfähigkeit der Industrienationen zur ökonomischen und politischen „Selbstkorrektur“. Damit war der Crash vorprogrammiert und erst danach rafften sich die Politiker auf, zu handeln.

Warum mußte die Börse die Umsetzung des Louvre Abkommens erzwingen? Warum konnten die Industriemächte nicht kooperieren, ohne daß ihnen die Investoren der Welt einen Tritt in den Hintern gaben? Auf der allgemeinen Ebene gibt es dazu zwei Antworten: Die erste verweist auf Probleme, die alle Industrienationen, vor allem aber die USA dabei haben, den innenpolitischen Konsens herzustellen, den internationale Kooperationen nun einmal voraussetzen. Die zweite betrifft die asymetrische Struktur des Kampfes zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Industrieländern, die ihrerseits abhängig ist von Problemen der Binnenverhältnisse innerhalb der großen kapitalistischen Mächte.

In der Bundesrepublik und Japan gibt es zu Punkten wie der Ausweitung des Binnenmarktes, zu Zinsrate und Inflation eine „harte“ und eine „weiche“ Linie. Eine nationale Politik gemäß den Richtlinien des Louvre Abkommens würde voraussetzen, daß die „Hardliner“, und das sind diejeni gen, die die hochdisziplinierte deutsche und japanische Volkswirtschaft der achziger Jahre organisieren, ein Stück ihrer Macht dem freien Spiel der Kräfte überlassen würden. Im Gegensatz dazu hängt eine solche nationale Politik in den USA ab vom Erfolg der Haushalts-Hardliner gegenüber den „big spenders“ aus dem Pentagon und dem Sozialbereich ebenso wie gegenüber den Steuerkürzungs Fanatikern der Angebotsökonomie. Kurz und gut: in den USA bedeutet eine Kooperation mit Europa und Asien, daß die Ausgabefreudigen den Gürtel-enger-Schnallern Platz machen müssen; in Europa und Asien bedeutet die Kooperation mit den USA, daß die Gürtel-enger- Schnaller den Ausgabereudigen Platz machen müssen. Zur Zeit sieht es so aus, als ob diese Verlagerung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse in Gang gekommen wäre und beide Seiten, die USA auf der einen und Europa/Asien auf der anderen, ein klein wenig nachgegeben hätten. Tasächlich jedoch werden ohne tiefgreifende ideologische und kulturelle Umbrüche weder die USA in der Lage sein, sich ihren Weg aus den ökonomischen Turbulenzen im wörtlichen Sinne zu ersparen, noch werden Europäer und Asiaten in der Lage sein, ihnen diesen Ausweg zu finanzieren. Jedes Land orientiert sich erstmal am eigenen Vorteil, und das wird auch so bleiben, bis irgendwelche strategischer oder taktischer Gründe zum Umdenken zwingen. In dem Maße, wie die Weltwirtschaft ihr neues Gesicht entschleiert, wird es immer klarer, daß eine internationale Zusammenarbeit in Verfolgung des Louvre-Abkommens nicht wirklich profitabel ist. Das neue Gesicht des Weltkapitalismus ist davon gekennzeichnet, daß eine Art Neuauflage der Weltkrieg II.- Konstellation die Szene prägt. Während die UdSSR bestrebt ist, ihr Feindbild-Image im Westen los zu werden, werden die Feindseligkeiten zwischen den USA und Europa und Asien immer offensichtlicher und tiefgreifender. Der Börsen-Crash war das Aufblitzen der Erkenntnis, daß die Weltwirtschaftspolitik im Umbruch ist, daß die „westliche Allianz“ nicht mehr das ist, was sie mal war und daß ökonomische Zusammenarbeit auf dem Feld der Wirtschaftspolitik schlichtweg unmöglich geworden ist.

Und endlich kapierte der Markt, daß die zwei wichtigsten Partner der Achsen-Mächte des Zweiten Weltkriegs ihr Bündnis mehr oder weniger aufrechterhalten haben. „Ihr nehmt den West und wir nehmen den Osten“, so die Deutschen, „und irgendwo in Zentralasien werden wir uns treffen“. Ein wirtschaftlicher Zwei- Fronten-Krieg ist da im Gange, und beide, die Bundesrepublik und Japan, expandieren nach Osten, Westen und Süden. Europa, angeführt von der Bundesrepublik, reklamiert für sich die eine Seite des Atlantiks, den potentiell riesigen russischen Markt und was immer die Dritte Welt in einer Epoche der Krise an mageren Profiten erbringen mag. Die Asiaten, angeführt von den Japanern, wollen das Pazifische Becken, den großen chinesischen Markt und ihren gerechten Anteil an der Dritten Welt. Resultat wird ein noch schnellerer Verfall der wirtschaftlichen Machtposition der Amerikaner sein, der Verlust von „Märkten“ für den Export des „American way of life“ und letztlich ein politischer Niedergang. In diesem Szenario wären die Vereinigten Staaten eine Art kapitalistisches Rußland, bis zu den Zähnen bewaffnet, aber wirtschaftlich, kulturell und politisch geschwächt.

Die Vereinigten Staaten und ihre „Verbündeten“ haben sich schon reichlich auseinanderdividiert. Die USA sind heute weniger anglo-amerikanisch, dafür mehr asiatisch und lateinamerikanisch. Ihre Beziehungen zu den Mächten, die USA, davon profitiert, die Ausrüstung für den Wirtschaftskrieg an die „Achsen“-Mächte zu verkaufen. Insbesondere die Japaner haben es verstanden, mit Hilfe von US-Technologie ihre eigene ökonomischen Streitmacht aufzu bauen. Zur Zeit ist der führende „Bündnispartner“ verdammt sauer auf die „Achse“, die ihrerseits auch aggressiver in Richtung auf die USA handelt. Kein Wunder, daß die Geld- und Aktienbörsen unruhig bleiben.

Die Welt befindet sich mitten in einem Bühnenstück, dessen erster Akt vergessen ist und wo der dritte Akt noch gar nicht geschrieben wurde. Dafür beherrschen die Konfrontationen, Konflikte und Generationen. Die Bundesrepublik fürchtet Inflation, innere Unordnung und die Wiedervereinigung mit der DDR wie der Teufel das Weihwasser. Japan fürchtet ebenso jedweden Mangel, die „Vier kleinen Tiger“ und ein Wiederaufleben des Maoismus in China. Von den tiefen und unbestreitbar irrationalen Ängsten dieser von Zwangsvorstellungen besessenen und exportorientierten Wirtschaftsmächte werden andere Gefühle unterdrückt, insbesondere so etwas wie Lust und Vergnügen, aber auch der offene Ausdruck von Schmerz und Wut. Vor allem aber sind sie ein Wunder an Selbstbeschränkung. Die Regierung Kohl hat die Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts seit 1982 systematisch niedrig gehalten. Sie hat sich geweigert, die Wirtschaft anzukurbeln, um mit mehr Wachstum etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu unternehmen. Japan ist so selbstdiszipliniert, daß es ihnen tatsächlich möglich ist, den Leitzins auf enem unglaublich niedrigen Niveau von drei und einem halben Prozent zu halten, ohne daß damit eine rasanter Kreditboom ausgelöst würde. Ihre Fähigkeit zur Selbstbeschränkung ist eine Art nationales Kapital, daß sie, wenn irgendmöglich, nicht zu verschwenden gedenken. Nach einem ganzen Jahrhundert wirtschaftlichen, sozialen und politischen Experimentierens haben sie es nicht nur geschafft, mit einer extrem fügsamen Arbeiterschaft aufwarten zu können, sondern auch mit einer extrem produktiven.

Die Vereinigten Staaten dagegen haben weder eine besonders fügsame noch eine besonders qualifizierte Arbeiterschaft, wenn man einmal von den neuen Einwanderern aus Asien und Lateinamerika absieht. Manager und Behörden sind ausgemachte Schwachstellen, ebenso wie die anarchischen Strukturen in Industrie und Regierungssystem. Das Land ist permissiv und verabschiedet sich wie ein eigensinniger Sohn ab und an aus der Weltgeschichte. Die Staaten fürchten den Mangel nicht, noch nicht jeden falls, und trösten sich immer noch mit den althergebrachten Ideologien von Unabhängigkeit und unbegrenzten Möglichkeiten über alles hinweg. Innenpolitische Wirren lösen keine wirkliche Furcht aus, seitdem Lincoln im Bürgerkrieg die brillante Strategie verfolgt hat, sich beide Seiten bis zur totalen Erschöpfung ausbluten zu lassen. Die USA fürchten ihre eigene Arbeiterklasse nicht mehr ( falls sie das überhaupt jemals taten), so individualisiert und privatisierend wie sie da steht. Es gibt keine Nachbarn, die die Sicherheit der Vereinigten Staaten gefährden würden, da sind auch Grenada und Nicaragua keine Ausnahme. Inflation bedeutet keine wirkliche Bedrohung und den Bankern ist es kaum ein irritiertes Zwinkern wert, wenn die Inflationsrate an ihren Gewinnen knabbert.

Die Amerikaner sind nun mal vom Lust-Prinzip geleitet. Sie lieben das gute Leben, ein minimales Risiko, jede Menge Annehmlichkeiten, die offenen Weiten (ob als „wilderness“ oder „freeways“ und die Möglichkeit zur Schatzbildung, vorzugsweise in Form von Spekulation. Die Amerikaner wollen vor allem Unterhaltung, sogar für ihre Todkranken, besonders aber für ihre tyrannischen Kinder und Jugendlichen. Die Männer werden leicht wütend; die Frauen weinen schnell. Das Land ist ein einziger großer Drugstore, wo jeder sich ohne Rezept das fixe Glück kaufen kann. Ausländer halten Amerikaner für freundlich. Da ist was dran. Wir wedeln mit dem Schwanz, unterstellen Intimität und Nähe, wo keine ist, und bilden uns eine Menge ein auf unseren Nachbarschaftsgeist. Politiker geraten öffentlich in Wut, heulen öffentlich und ebenso öffentlich vögeln sie rum.

Alles in allem: die USA kennen keine oder nur sehr wenig Selbstbeherrschung, eine Weisheit, die uns „Business Week“ seit über 15 Jahren wöchentlich vorhält. Nie hat das Land gelernt, das eigene Haus in Ordnung zu halten, schließlich gab es soviele andere Häuser und Nachbarschaften zu besetzen. Die Urangst der Amerikaner ist der Lustverlust. Weder der Arbeitsmarkt, noch die Verwaltung oder der Staat sind als Disziplinierungsinstrumente brauchbar. Disziplinarische Maßnahmen exekutiert nur das Konto in der Arena des Konsums über seinen Zugangspaß zum Glück, die Kreditkarte.

Wenn die Deutschen und Japaner in unserem Textbuch die Rollen der sturen Bürger spielen, deren Söhne zu Hause bleiben und sich mit aller Kraft der Vermehrung des Familienvermögens widmen, dann sind die Amerikaner als die mißratenen Söhne gezeichnet, die locker und genußsüchtig in weiter Ferne leben, damit beschäftigt, Windmühlen zu bekämpfen. Wie wir es aus Büchern und Bühnenstücken gewohnt sind, identifizieren sich die beiden Brüder miteinander und in Abgrenzung zueinander. Bis in die 70er Jahre war das Bild der Amerikaner vor allem gepragt vom „good will“. Mittlerweile hat sich das Bild aber gewandelt. Die Deutschen und Japaner bezahlen nicht nur den US-Lebensstandard, die Fehler der US-Außenpolitik und den atomaren Schutzschild, sie stützen auch die US-Währung massiv. Sie gehen dabei soweit, ihre eigenen Volkswirtschaften zu gefährden – aber eben doch nur, um sie letztlich zu retten. Die Wortgefechte um das Doppeldefizit verschleiern nur die Tatsache des Doppelüberschusses (im Export) auf der anderen Seite.Wer diszipliniert wen, heißt die Frage.

Aber – wie wir schon bemerkten – es handelt sich bei der ganzen Auseinandersetzung um einen ungleichen Kampf. Der mißratene Sohn, der Verschwender hat die Macht in Form eines riesiegen Marktes und der brave Sohn, der hinter dem Ofen hockt, hat keine Macht außer der, dem anderen die Mittel zu kürzen. Und das ist bislang eben noch gar keine reale Situation, nicht jedenfalls, solange die russischen und chinesischen Märkte nicht erschlossen sind, und sich weder ein deutsch-russisches noch ein japanisch-chinesisches Handelsbündnis etabliert hat. Den Japanern und Deutschen würde bei einem freien Fall des Dollar gar nichts anderes übrig bleiben, als den Gürtel noch enger zu schnallen – ein Test auf ihre Leidensfähigkeit, den selbst diese Wunder an Selbst-Disziplin nicht ohne Schaden überstehen würden. Der Kampf, es ist wert, das zu wiederholen, ist ungleich. Die Amerikanet haben die Macht, zu sagen:“Nun los, werdet uns gefälligst ähnlicher, wir verkörpern die Zukunft, der Kapitalismus bedeutet das ungebundenen Regiment des Lustprinzips. Wenn nicht, dann lassen wir eben den Dollar fallen, eure Zentralbanken werden absolut hilflos sein, so etwas zu stoppen, wir werden euch einfach ruinieren“. Natürlich hat das bis jetzt niemand gesagt, aber zwischen den Zeilen kann man es lesen. Vielleicht wird es auch nicht nötig sein. Aber nur, wenn ein Wunder geschieht. Und die Börsen glauben nicht an Wunder. Übersetzung: Georgia Tornow