:
Aus München Luitgard Koch
Strommasten-Sägen: Zwei fielen aus der Reihe Erster großer Prozeß in München / Fünf Jugendliche angeklagt / Vier Mio. Mark Schaden / Alle Angeklagten legten Geständnisse ab / Motiv: Ohnmachtsgefühl nach Tschernobyl / Staatsanwaltschaft wertet Zugblockade als Mordversuch / Urteile für „Mitläufer“ am Aschenmittwoch, für beide Hauptangeklagten am 4. März
Aus München Luitgard Koch
Anfang Februar begann vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts München II der Prozeß gegen fünf Jugendliche aus dem Raum Starnberg, alle zwischen 20 und 25 Jahre alt. Ihnen werden die schwersten Straftaten, vom einfachen Diebstahl über Sachbeschädigung bis hin zum Mordversuch vorgeworfen. Von September 86 bis April 87 sollen sie zwei Strommasten und einen Oberleitungsmast beim S-Bahnhof Mühltal umgesägt und den Frühzug der Schnellbahn Linie 6 nach München durch Metallstücke auf den Schienen beinahe zum Entgleisen gebracht haben. Das Blockieren dieses S-Bahnzuges wertet die Staatsanwaltschaft als Mordversuch. Allein drei Millionen Mark Sachschaden verursachte eine Explosion vom April 87 im Keller einer Tutzinger Villa, wo eine Elektronikfirma, die auch Bauteile für die Rüstungsindustrie herstellt, Chiffrier-Computer gelagert hatte. Zusammen mit den Sachschäden an Masten und Bahnanlagen schätzte die Staatsanwaltschaft die Gesamtsumme auf knapp vier Millionen Mark. Spektakulär war die Folge des umgesägten Strommastes in Monatshausen: In Tirol gingen kurzzeitig die Lichter aus. Vor Gericht gestanden alle fünf Angeklagten die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft.
„Artige junge Herren“
Nur einen halben Tag, nachdem an einem Aprilmorgen 50 Liter Aceton in der Tutzinger Elektronikfirma „Tele Security Timmann“ explodierten, wurden vier der fünf angeklagten Jugendlichen festgenommen. Hinweise aus der Bevölkerung brachten die „Sonderkommission Energie und Bahn“ des bayerischen Landeskriminalamts auf ihre Spur, nachdem zuletzt über 200.000 Mark Belohnung, davon 100.000 allein von der Bayernwerke AG, für ihre Ergreifung ausgesetzt worden waren. Als „einmaligen Schlag gegen die Strommastenumsäger-Szene ohne Beispiel in anderen Bundesländern“ bezeichnete der CSU- Scharfmacher Peter Gauweiler damals stolz ihre Verhaftung.
Doch als vor knapp zwei Wochen der Prozeß gegen die fünf eröffnet wurde, blieb von dem Bild der „großen Fische aus der Terror-Szene“ nicht mehr viel übrig. „Peter Gauweilers ganz großer Fang“ spöttelt die Münchner Abendzeitung und bildet auf einem Foto aus dem Gerichtssaal „Die artigen jungen Herren Strommasten-Absäger“ ab. Blaß und angespannt sitzen sie nach elfmonatiger Untersuchungshaft vor dem Richter. Das Outfit des schmächtigen Brillenträgers Rudolf G. (25) ist absolut korrekt: graue Lederkrawatte, weinrotes Hemd zum Sakko. Der Küchenhelfer wird zusammen mit dem Schüler Mathias Z. (20) als mutmaßlicher Haupttäter gehandelt. Beflissen und ernsthaft macht sich Mathias während der Verhandlung Notizen. So tadellos wie ihr Aussehen ist auch das Verhalten der beiden Hauptangeklagten. Höflich und bereitwillig beantworten sie beide vor Gericht stundenlang alle Fragen.
Mit leiser Stimme, verunsichert und eingeschüchtert erzählt die einzige Frau, die junge Steuergehilfin Daniela N., wie sie mit den „Jungs“ – mehr oder weniger aus Liebe zu Mathias – zum Sägen mitgekommen war. Als „passive Beteiligung“ wurde ihr Verhalten als Aussage im Protokoll der ersten polizeilichen Vernehmung festgehalten. Doch der Begriff stammt nicht von ihr. Ohne den Sinn zu begreifen und ohne ihr Vernehmungsprotokoll durchgelesen zu haben, unterschrieb Daniela es auf Geheiß der Beamten nach ihrem ersten Verhör. Das Kürzel auf dem Papier „s.g.u.g.“ (selbst gelesen und genehmigt) kannte sie nicht.
In der Verhandlung zielten die Fragen der Schöffin auf das Menschliche und Moralische. „Warum haben Sie als Frau nicht die einmalige Chance wahrgenommen, den Menschen, den Sie lieben, vor dem Bösen zu bewahren?“ Und von Mathias wollte sie wissen, was er denn gegen „die vielen Verkehrstoten auf unseren“ Straßen unternehme und ob er denn wisse, wieviel an radioaktiver Strahlung der Mensch allein bei einer Computertomographie abbekäme. Mathias und Daniela geben auf jede Frage ruhige Antworten. „Wir wollen eine ruhige Verhandlung führen“, betont auch der Richter Klaus Pollack, „schließen Sie daraus jedoch nicht, daß wir die Dinge als Kleinigkeiten ansehen.“ Er wird entscheiden, ob im Verfahren nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird.
„Ohnmachtsgefühl nach Tschernobyl“
Bei ihren Aktionen handelten die jungen Männer immer sehr spontan und kaum nach einem ausgeklügelten Plan. So vergaß Mathias einmal seine Säge am „Tatort“. Als er sie holen wollte, stellte er fest, daß er auf der Flucht vor dem umstürzenden Masten auch noch seine Ausweispapiere auf dem Acker verloren hatte. Nach dem Sägen hatten sie ein „tolles Gefühl im Bauch“, auch stimuliert durch Alkohol und Shit. Rudolf erklärte vor Gericht, er sei im letzten Jahr vor der Verhaftung „eigentlich immer betrunken gewesen, denn man ist dann über den Dingen gestanden“. Die Familienverhältnisse von Rudolf, genannt „Ratz“, waren von jeher schwierig gewesen: Der Vater starb, als er vier war, das Gymnasium schaffte er nicht, der ältere Bruder warf ihn später aus dem elterlichen Haus. Und Mathias litt unter den Alkoholproblemen seiner Mutter.
Anfang dieses Jahres sind die sogenannten „Anti-Terrorgesetze“ in Kraft getreten. Der Straftatbestand der terroristischen Vereinigung wird damit auf gefährliche Eingriffe in Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr und auf die Störung öffentlicher Betriebe ausgedehnt. Schon am ersten Verhandlungstag hatten sich die jungen Männer immer wieder gegen den Stempel „Terroristen“ gewehrt. „Grundsätzlicher Haß gegen das demokratische Staatssystem“ war als Tatmotiv auf einer Pressekonferenz kurz nach ihrer Verhaftung verbreitet worden. Ratz vor Gericht: „Unsere Demokratie ist zwar die beste, die wir je hatten, jedoch immer gefährdet durch Machtmißbrauch.“ Tschernobyl und das Ohnmachtsgefühl danach war für beide der vage Hintergrund der Aktionen. „Tschernobyl ist an die Substanz gegangen“, so Mathias. Den Frust am Strommast abzureagieren, war der Ausweg. Das Ohnmachtsgefühl sei jedoch durch die Presseberichte nach den Aktionen, die ihn in die „Terroristenecke“ gedrängt hätten, noch verstärkt worden. Immer wieder bohrte der Richter nach, warum sie keine Bekennerbriefe geschrieben hätten, um der Bevölkerung die Aktionen zu erklären. Aber für Mathias war klar: Bekennerbriefe = Terrorist. Nur einmal, aus Spaß, habe er Ratz vorgeschlagen, sich „Rote Grütze Fraktion“ zu nennen: „Das grenzt deutlich ab und zeigt die Weichheit der Aktion“, lacht er zum ersten Mal ein wenig.
Der Prozeß wird am Aschermittwoch fortgesetzt. Das erste Urteil gegen den 20jährigen Abiturienten Georg B. und den Schüler Peter H., der sich nach der Verhaftung der anderen freiwillig der Polizei gestellt hatte, wird für den darauffolgenden Tag erwartet. Da die beiden 20jährigen nur an einer der Strommastenaktionen beteiligt waren, gelten sie als „Mitläufer“. Mathias, Rudolf und Daniela werden voraussichtlich am 4. März verurteilt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen