Presseschelte im Dienst der Atomgemeinde

Der Medienforscher Professor Kleppinger untersuchte mit einer „quantitativen Inhaltsanalyse“ die Atomenergie-Berichterstattung der bundesdeutschen Presse / Ergebnis: Nicht die Atomindustrie ist in der Krise, sondern ihre Darstellung in den Medien / Sogar die FAZ weist ein Negativ-Saldo von „wertenden Aussagen“ auf  ■ Von Gerd Rosenkranz

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung als publizistische Wegbereiterin der Anti-AKW-Bewegung? Die ablehnende Haltung der Bevölkerungsmehrheit gegenüber der Atomenergie nichts weiter als das Resultat einer gigantischen Verschwörung der Journaille gegen einen hilf- und machtlosen Industriezweig? Die Darstellung der Risiken der Atomenergie- Nutzung und der Folgen radioaktiver Strahlung ein einziges Phantasieprodukt der Medien?

Hans Mathias Kepplinger, Medienforscher, Zögling der Kanzler-Vertrauten Elisabeth Noelle- Neumann und Lehrstuhlinhaber an der Universität Mainz, formuliert die Schlußfolgerungen aus seiner jüngst vorgelegten Presseanalyse ein wenig vorsichtiger. Schließlich steht da ein mühsam erworbener wissenschaftlicher Ruf auf dem Spiel.

Sein Publikum im „Goldsaal“ des mondänen Hotels Königshof in Bonn indes stört das nicht. Hingerissen lauscht die Creme der bundesdeutschen Atomgemeinde – Anlaß der Zusammenkunft ist die Wintertagung des „Deutschen Atomforums e.V.“ – den professoralen Einsichten, die so trefflich mit den eigenen Vorurteilen übereinstimmen.

Gegenstand der „quantitativen Inhaltsanalyse“, die Kepplinger den Atomfürsten unter dem Titel „Die Kernenergie in den Massenmedien – oder Die Rhetorik der Angst“ präsentiert, ist der politi sche Teil der Tageszeitungen Frankfurter Rundschau (FR), Süddeutsche Zeitung (SZ), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und Welt, sowie der Wochenblätter Zeit, Spiegel und Stern von 1965 bis 1986. 25 sogenannte „Codierer“ durchforsteten dazu eine „repräsentative Stichprobe“ von insgesamt 2.002 Ausgaben der genannten Blätter nach „wertenden Aussagen“ über die Atomenergie und ordneten die Tendenz der Aussagen in ein Pro und Contra-Schema mit fünf beziehungsweise sieben Abstufungen ein.

Umbewertung der Atomenergie schon 1974

chenkt man Kepplingers erstem Resultat Glauben, so stehen alle untersuchten Blätter – mit Ausnahme der Welt – fest im Lager der Atomkraftgegner. „Auch in der Berichterstattung der FAZ war der Saldo aller Aussagen negativ“, eröffnete der Professor dem etwas verdutzten Publikum, nicht ohne zu bemerken, daß dieses Ergebnis in der Frankfurter Redaktion „ziemlich unfreundlich“ aufgenommen worden sei. Die schärfsten Atomkritiker sitzen jedoch in der Hamburger Spiegel-Zentrale, dicht gefolgt von den anderen beiden Wochenblättern Zeit und Stern. Die Welt, einziges Pro-Atomblatt, machte die Atomenergie gleichzeitig weniger als alle anderen Blätter zum Thema.

Im Zeitraum zwischen 1965 und 1973 sah alles noch ganz an ders aus. Mit Ausnahme von Spiegel und Zeit (schwach negativ) glaubten alle untersuchten Blätter an die Segnungen der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“. Die Umbewertung der Atomenergie erfolgte überraschenderweise nicht erst mit den Unfällen von Harrisburg und Tschernobyl, sondern bereits im Jahr 1974. Doch nicht so sehr der Gesinnungswandel der JournalistInnen an sich erregt den Mainzer Medienforscher, sondern vielmehr deren „Negativismus“. „Erst als die Tendenz der Darstellung insgesamt negativ war“, beklagt sich Kepplinger, „nahm die Intensität der Berichterstattung deutlich zu.“ Deshalb seien die negativen Urteile über die Atomenergie auch nicht „vornehmlich die Folge der Reaktorunfälle“ von Harrisburg und Tschernobyl, sondern die ohnehin negativen Urteile der JournalistInnen über die Atomenergie kulminierten nach den Unfällen in einer unseligen Intensivierung der Berichterstattung.

Medien schuld an „negativer Haltung“

Schwer im Magen liegt dem Professor eine „Gewißheit“, von der nicht recht klar wird, wer sie eigentlich vertritt. Die Vorstellung nämlich, daß die Medienberichterstattung das „geschärfte Problembewußtsein der Bevölkerung“ in Sachen Atomenergie immer nur reflektiert, nicht aber selbst beeinflußt oder befördert habe. Kepplinger räumt anhand parallel durchgeführter Meinungsumfragen mit dieser „Gewißheit“ auf. Danach eilen zum Beispiel die im Spiegel verbreiteten Wahrheiten den Einsichten der Bevölkerung (und anderer Presseprodukte!) immer um einen gewissen Zeitraum voraus. Ob somit das Hamburger Magazin für die negative Haltung der Bevölkerung gegenüber der Atomenergie verantwortlich zu machen sei, will einer der Atomlobbyisten wissen. Kepplinger unter dem Beifall des Publikums: „Es ist unrealistisch zu glauben, daß die Leser des Spiegel von selbst drauf kamen.“

Immer weniger Unfälle, immer mehr Berichte

Nach den Wirkungen der Negativ- Berichterstattung widmet sich der Mainzer Professor schließlich den Ursachen – und gerät vollends auf die ideologische Rutschbahn. „Externe Ursachen“ – darunter versteht der Medienfporscher Störfälle in Atomanlagen, die radioaktive Strahlenbelastung in der Atmosphäre und Veränderungen bei der Nutzung der Atromanergie – haben danach die Berichterstattung in keiner Weise beeinflußt. Kepplinger klagt, daß sich der Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung in den vergangenen zwölf Jahren versechsfacht habe, diese gravierende Veränderung der Energieversorgung in der Berichterstattung der untersuchten Blätter jedoch keine Entsprechung finde. Die Schlußfolgerung des Medienforschers: Journali sten blenden positive Meldungen zur Atomenergie konsequent aus. Als zweites Beispiel „externer Ursachen“ nennt Kepplinger die Zahl der „kerntechnisch relevanten Störfälle“, die seit 1979 „gravierend“ abgenommen habe. Dennoch habe „bereits ab 1984 die Anzahl der Aussagen, in denen in der Presse auf Störfälle hingewiesen wurde, zunächst nur etwas, dann jedoch dramatisch“ zugenommen.

In die Jahre 1984/1985 fiel die allmähliche, mit dem Bonner Regierungswechsel einsetzende Umorientierung der SPD in Sachen Atomenergie, insbesondere die vorsichtige Absage an den Schnellen Brüter und die Wiederaufarbeitung. Daß dies die ebenso schlichte wie naheliegende Ursache der Zunahme kritischer Berichterstattung in mehrheitlich SPD-gebundenen Medien sein könnte, diskutiert Kepplinger nicht. Im Tschernobyl-Jahr 1986 erreichte die Zahl der Störfälle ihr Minimum, dennoch nahm die Zahl der Berichte über Störfälle sprunghaft zu. Unerklärlich für den Medienforscher Kepplinger, wo doch lediglich die Sowjetunion ein paar Probleme mit ihrem Reaktor in der Ukraine zu bewältigen hatte.

Analog die Beweisführung beim Thema radioaktive Strahlenbelastung aus der Atmosphäre. Kepplinger untersucht, ob Strahlungsintensität und Berichtsintensität parallel verlaufen. Sie tun es nicht: In den Ausgaben von 1965, als die Strahlenbelastung durch oberirdische Atomwaffentests noch relativ hoch war (und das Wissen über die Auswirkungen radioaktiver Niedrigstrahlung nahe Null, was der Professor nicht sagt), suchten Kepplingers Codierer Berichte zum Thema fast vergeblich. 1986 dagegen, anläßlich einer „räumlich wie zeitlich begrenzten Belastung“, war die Berichterstattung so intensiv wie nie.

„Struktureller Irrationalismus“

Am Ende steht nicht unerwartet Kepplingers wissenschaftlicher Schuldspruch: Eine tiefe „Kluft zwischen der Realität und ihrer Darstellung“ tue sich auf. Ergebnis eines „strukturellen Irrationalismus“, dessen Ursachen im journalistischen System selbst zu suchen seien. Nicht die Atomindustrie befinde sich in der Krise, sondern ihre Darstellung in den Massenmedien.

Die Ovationen der Atomgemeinde im Bonner Hotel Königshof sind Kepplinger so sicher wie die der CDU im Jahre 1976, als er nach einer ähnlich scharfsinnigen Analyse viel Lob verbuchen konnte. Damals hatte der aufstrebende Wissenschaftler herausgefunden, daß sozialdemokratische Kameraleute von ARD und ZDF im Bundestags-Wahlkampf den kleinwüchsigen Schmidt stets aus der Vogel-, den schwarzen Riesen Kohl jedoch aus der ungünstigen Froschperspektive ins Visier genommen hatten. Das Ergebnis ist bekannt. Schmidt gewann die Wahl.