Paragraph 129a – aus seiner Abstraktheit aufgetaucht

■ Offener Brief der Schwester von Ulla Penselin, die seit Dezember letzten Jahres wegen angeblicher „Mitgliedschaft in der Roten Zora“ inhaftiert ist

„Eine junge Frau ist festgenommen worden“, so hieß es in den abendlichen Nachrichten am 18.12.87 in der Berichterstattung über die Durchsuchungsaktion des Bundeskriminalamtes. Solche Meldungen sind ja nichts besonderes bei uns. Ich registriere sie, und je nach der Ausführlichkeit der Berichterstattung in den Medien werden sie in meinem Kopf irgendwo abgeheftet oder geraten in Vergessenheit. Die Betroffenheit ist eher abstrakt, sie dringt meistens nicht bis zu meinen Gefühlen vor.

Dieses Mal war alles anders: Am folgenden Tag erreichte mich ein Anruf meiner Eltern: Die in Hamburg verhaftete Frau ist meine Schwester Ulla! Szenen aus dem Film „Bleierne Zeit“, in denen Gudrun Ensslin von ihrer Schwester im Gefängnis besucht wird, jagen durch meinen Kopf. Plötzlich ist der §129a ganz nahe und fühlbar geworden, er ist aus seiner Abstraktheit aufgetaucht. Die mit diesem Paragraphen verknüpften Haftbedingungen, wie Einzelhaft ohne jegliche Kontakte zu anderen Gefangenen, Besuchsbeschränkungen und Überwachungen etc. rücken bedrohlich nahe.

All die nun einsetzenden Aktivitäten, die neuen Erfahrungen und Sorgen um Ulla werden begleitet von der bohrenden Frage, warum ich mich vorher, obwohl ich vom §129a und irgendwelchen Verschärfungen wußte, persönlich nicht betroffen gefühlt habe. Ich habe mir weder richtig klar gemacht, was diese Paragraphen für die politische Arbeit bedeuten, noch versucht, mir konkret vorzustellen, was die Haftbedingungen für das „Leben“ der Gefangenen heißen.

Einige von euch sind vielleicht empört über diese Naivität oder Ignoranz, aber ich bin sicher, daß es auch viele gibt, denen es ähnlich ergangen ist wie mir: Politisierung während des Studiums, ein paar Jahre engagierte Aktivitäten in Frauen-, Dritte Welt- und anderen Gruppen. Dann Examen, erste Berufstätigkeit, Kind. Alte Zusammenhänge lösen sich auf, Freunde ziehen weg, der Alltag verändert sich drastisch. Ich wollte mir eine Pause, eine Phase der Neuorientierung gönnen und zog mich aus allen politischen Zusammenhängen zurück.

Was von den „guten alten“ aktiven Zeiten geblieben ist, ist das (passive) „kritische Bewußtsein“, was sich noch in der Auswahl der Zeitungen, gelegentlichen Veranstaltungsbesuchen und Teilnahmen an Demos oder Unterschriften unter diverse Listen ausdrückt. Und nun frage ich mich ständig: Wie funktioniert es, daß ich diese bedrohliche politische Entwicklung nicht an mich rangelassen habe, mich nicht betroffen gefühlt habe?(...)

Bei all meinem Grübeln, bei allen Versuchen zu erfassen, was hier mit Ulla und Ingrid und vielen anderen gemacht wird, merke ich auch immer wieder, daß in meinem Kopf trotz aller Skepsis gegenüber unserer „Rechts“-sprechung doch irgendwo ganz fest ein schwer zu erschütternder Glaube sitzt, daß es doch eine rechtliche Instanz geben muß, an die man sich wenden könnte, die „so etwas“ einfach nicht zuläßt. Daß es diese Instanz in Ullas Fall schlicht und einfach nicht zu geben scheint, kann ich trotz aller politischen Einsichten letztlich doch nicht fassen. Schließlich geht mir auch die Frage durch den Kopf, ob ich mir in einigen Jahren von meinem Sohn vielleicht vorwerfen lassen muß, daß ich mich nicht gewehrt, sondern die Augen zugemacht habe und still geblieben bin.

Für mich ist es wichtig, diesen Artikel aus der Sicht meiner persönlichen Betroffenheit heraus zu schreiben, weil mir in dieser Situation mal wieder drastisch bewußt geworden ist, daß die üblichen Solidaritätsaufrufe, politischen Einschätzungen usw. häufig an mir abperlen, im Kopf einfach zu den vielen anderen ähnlichen Vorkommnissen abgeheftet werden. Liegt das vielleicht u.a. daran, daß auch die kritische, linke Presse zu formelhaft, schematisch ist und mit zu vielen Schlagworten berichtet? Z.B. steht immer „Schreibt Briefe“ unter Artikeln, Flugblättern, Resolutionen usw., die über Leute im Gefängnis berichten. Diese Aufforderung habe ich immer zur Kenntnis genommen. Ich habe sie aber nie auf mich selbst bezogen, sie kam mir eher wie eine Formel vor, die eben dazugehört. Wenn ich jetzt Ulla im Gefängnis besuche, und sie sich ausdrücklich viel Post wünscht, weil ihr die Solidarität von draußen Kraft gibt, die Isolationshaft durchzustehen, dann weiß ich, was hinter dieser Aufforderung steckt!

Auch ich bin vor einiger Zeit auf das Thema Gen- und Fortpflanzungstechnologien gestoßen. Je länger und intensiver ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto dringender ergibt sich für mich daraus die Notwendigkeit, damit an die Öffentlichkeit zu treten, wieder politisch aktiv zu werden. Die Ereignisse der vergangenen Wochen bestärken mich darin. Ulrike Penselin