Der diskrete Charme von Sankaras Erben

Vor vier Monaten wurde im Sahelstaat Burkina Faso Präsident Thomas Sankara ermordet / Mit dem Idol der afrikanischen Jugend wurde auch ein Stück Hoffnung auf ein besseres Morgen begraben – jedenfalls in den Augen einer interessierten Weltöffentlichkeit / Im Lande selbst sieht man es heute freilich anders  ■ Von Knut Pedersen

Ouagadougou (taz) – Unweit des alten Stadions von Ouagadougou, in einer staubigen, ungeteerten Straße: Hinter dem Gartentor eines unscheinbaren Hauses spielt ein kleiner Junge mit seinem roten Feuerwehrzug. Mit nerviger Beständigkeit läßt er ihn ein ums andere mal über die Motorhaube des geparkten Autos rollen – und gelegentlich in den Sand plumpsen. Dann müssen alle Erwachsenen hinschauen, weil er das großartig findet. Ganz offensichtlich hat der spindeldürre Knabe noch ein hedonistisches Verhältnis zur Schwerkraft. Wenn man Auguste Sankara heißt und seinem ermordeten Vater Thomas wie aus dem Gesicht geschnitten ist, wird man freilich früher als andere lernen müssen, wie bedrückend Schwerkraft in Gesellschaft ist.

„Stellen Sie sich eigentlich nie die Frage, warum hier in Burkina Faso so gut wie niemand Sankara eine Träne nachweint?“ Der aggressive Fragesteller beginnt seine eigenen Erklärungen mit der seltsam anmutenden Wendung: „Ich als Intellektueller...“ Den Sprachtick kultiviert hier jeder, den universitäre Bescheinigungen in den Adelstand des Geistes erhoben haben, also alle mittleren und höheren Staatsdiener. In den zahlreichen Ämtern Ouagadougous rechnen sie heute auf, was sie gestern hinunterschlucken mußten. Thomas Sankara war ihnen zufolge ein „gefährlicher Größenwahnsinniger, der mit Lust demütigte, wer immer ihn in den Schatten zu stellen drohte“. Ein Charakterzug, den eine allzu huldvolle und personalisierende Auslandspresse gefördert habe.

„Haß auf höchster Ebene“

War Thomas Sankara auf dem Wege, ein selbstherrlicher Diktator zu werden? Die Frage ist berechtigt oder zumindest zulässig, aber sie läßt sich – posthum – nicht erörtern. Tatsache ist, daß Sankara am 15.Oktober im Rahmen einer sogenannten „Rektifikation“ der politischen Linie ermordet wurde. Und daß ihm die Fähigkeit fehlte, seine Stellung auszufüllen, ohne zugleich seinem Hofstaat das Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln.

Anfang Januar hat die „Volksfront“ des neuen Machthabers Blaise Compaores 1.500 Delegierte zur kritischen Bilanz der Sankara-Jahre versammelt. Nach dreitägiger Debatte wurden 36 „Empfehlungen“ verabschiedet: Da war von einer neuen Wohnungspolitik die Rede, von mehr „politischer Transparenz“ und „Ermutigung des privaten Wirtschaftssektors“ – Kurskorrekturen ohne grundsätzliche Bedeutung. „Wenn die Rektifikation nicht mehr bedeutet, dann hat man Thomas für nichts und wieder nichts ermordet“, stellt mit ruhiger Stimme seine Frau Mariam Sankara fest. Ihr widerspricht die zynische Bemerkung eines Ratgebers Compaores, demzufolge Sankara dem „Haß auf höchster Ebene“ zum Opfer fiel.

Neue Topographien der Macht

Vier Monate nach dem gewaltsamen Tode Sankaras hat sich die Topographie der Macht in Ouagadougou verändert: Im Präsidentenpalast – mit dem seit vergangenem Oktober unberührten Büroräumen Sankaras im ersten Stock – geht man heute nach Belieben ein und aus. Er ist für jedermann zugänglich, ohne besondere Kontrolle. Das angrenzende Gebäude des „conseils de lentente“ (“Rat des Einverständnisses“), ein Pavillonkomplex, in dem sich Blaise Compaore eingerichtet hat, ist hingegen hinter einer hohen Mauer mit einbetonierten Wachstuben und Kasematten verschanzt. Ein Staat, der nicht länger seiner Überzeugungskraft vertraut, grenzt hier sein Heiligtum ab. Er flößt der Gesellschaft den nötigen Respekt ein. Was freilich auch bedeutet: Sofern die Gesellschaft die gesetzten Grenzen respektiert, läßt sie der verschanzte Staat in Ruhe. Auf diesem Minimalkonsens beruht der neue Gesellschaftsvertrag in Burkina Faso, einem erschreckend „normalisierten“ Land.

Wer im vergangenen Oktober ein vom Entsetzen gelähmtes Burkina Faso verlassen hat, kann sich in der Tat nur wundern, die vollständig heute der Alltag jedwede Erinnerung verdrängt. Auf den ersten Blick sind sich Land und Leben gleich geblieben. Erst beim genaueren Hinsehen entdeckt man den kleinen Unterschied, der oft die Differenz ums Ganze ausmacht. Aber davon spricht keiner mehr: Die Ermordung Thomas Sankaras im Namen einer „Kurskorrektur“ ist kein Gegenstand ungezwungener Unterhaltung. Und man läßt es den Fremden spüren, wenn er mit lästigen Fragen die stillschweigende Übereinkunft stört: Die „Revolution“ als etwas, das alle angeht, wurde mit Sankara zu Grabe getragen.

„Endlich ist die Revolution vorbei!“

Dem Staatsstreich waren zunächst traumatische, ungewisse Wochen gefolgt, bis sich Anfang Dezember die Spannung wie löste. Die nächtliche Ausgangssperre wurde rechtzeitig zu Weihnachten aufgehoben, und zum Jahreswechsel waren die unzähligen Bierhallen und Nachtclubs Ouagadougous wieder gerammelt voll. Im Herzen des bettelarmen Sahelstaates amüsiert man sich mit jenem Hunger nach Leben, der Verdacht der Zwanghaftigkeit weckt. „Jahrelang hat uns Sankara für die Revolution ins Zeug genommen. Aber jetzt ist die Revolution vorbei, erschossen. Und wir machen uns Luft, lassen uns gehen – das ist alles.“ So erklärt ein „früherer Revolutionär“ die allgemeine, wenn auch verschämte Erleichterung.

Das neue Regime war klug genug, einer von der „permanenten Revolution“ Thomas Sankaras erschöpften Gesellschaft wieder ihren früheren Spielraum einzuräumen. Wie in den meisten afrikanischen Ländern haben die traditionellen Würdenträger heute auch im revolutionären Burkina Faso ihre protokollarischen Ehren zurückgewonnen. Auch hat Blaise Compaore mit der katholischen Kirche einen Burgfrieden geschlossen. Bedeutsam in einem Land, dessen Elite traditionell auf katholischen Schulbänken saß. Wichtiger als alles andere aber ist die Aussöhnung des „revolu tionären“ Staates mit den seit jeher aufmüpfigen Gewerkschaften. Blaise Compaore läßt keine Gelegenheit aus, die „authentischen Vertreter der Arbeiterklasse“ zur verantwortlichen Mitarbeit einzuladen, und bereits zum Jahresende hat er die Gehälter der Staatsbeamten um vier bis acht Prozent erhöht: die erste Lohnerhöhung nach sechs Jahren eiserner Haushaltspolitik. Seit 1982 hatten die rund 26.000 Staatsdiener Burkina Fasos, einschließlich der Soldaten, rund ein Drittel ihrer Kaufkraft eingebüßt: Thomas Sankara glaubte, ihnen das zumuten zu können, da ihre Besoldung nach wie vor den halben Staatshaushalt auffrißt. Aber mit dieser Überzeugung sägte er sich selbst den Ast ab, auf dem in Afrika Herrschaft sitzt.

Das Heer kleiner Beamter ist – neben der Armee – zur zweiten Stütze des neuen Regimes geworden. Da niemand mehr angstvoll jeden Mittwoch fürchten muß, wegen „Nachlässigkeit“ oder „antirevolutionären Verhaltens“ per Rundfunk seine „Sanktionierung“ zu erfahren, gewährt der Durchschnittsbürokrat dem Kaiser, was des Kaisers ist: Loyalität, die sich mangels wirklicher Überzeugung als konformistische Gesinnung präsentiert. Im übrigen reißt man sich kein Bein mehr aus, seitdem die Alltagsrevolution den Feierabend respektiert: Sankaras Ideen vom „Neuen Menschen“, vom „Massensport“ und „Klassenkampf“.

Diplomatische Normalisierung

Das Ergebnis: Eine ganz gewöhnliche Militärdiktatur, nicht besser und nicht schlechter als viele andere in Afrika. Derlei „Wahlverwandschaft“ erklärt vielleicht auch die rasche diplomatische Anerkennung des neuen Regimes. Obwohl jeder weiß oder wissen könnte, das Blaise Compaore seinen Vorgänger kaltblütig ermorden ließ, wurde er in den Hauptstädten aller Nachbarländer mit höchsten Ehren empfangen. Am Beispiel Ghanas: Obgleich ein persönlicher Freund Thomas Sankaras und im gewissen Sinne sein „alter Ego“ im anglophonen Afrika, hat der ghanische Staatschef Jerry Rawlings seine Beziehungen zum neuen Regime in Ougadougou rasch „normalisiert“ und Blaise Compaore am 20.Januar im Norden Ghanas sogar als Gast empfangen.

Was die Geberländer Burkina Fasos betrifft, so haben sie das Kapitel Sankara ebenfalls beschlossen: „Mit Erleichterung, insofern Sankara nicht wahrhaben wollte, daß seine Abhängigkeit von unserer Hilfe natürlich auch gewisse politische Gegenleistungen impliziert“ – so diplomatisch drückt sich ein Repräsentant der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich aus. Er kann mit Genugtuung feststellen, daß der neue Staatschef „mehr Wirklichkeitssinn besitzt“: Seit dem Tode Sankaras enthält sich Burkina Faso der Stimme, wenn in den Vereinten Nationen von der Unabhängigkeit Neu-Kaledoniens die Rede ist.