GASTKOMMENTAR
: Kein Zufall

■ Der Aktenklau im US-Document-Center

Der Tatort ist mir nicht unbekannt: Ich habe im September 1987 dort für die WDR-Fernsehdokumentation „Der perfekte Mord: Wie die Nazirichter freigesprochen wurden“ Akten gefilmt. Den Zugang dazu zu schaffen, fand ich ziemlich umständlich, es bedurfte etlicher Korrespondenz. Da hatten es, wie sich jetzt herausstellt, andere leichter. Die haben sich im Berliner US-Document-Center illegal, dafür aber umfassend bedient. Nach eigener Kenntnis der Örtlichkeiten und des Kontrollrituals während der Akteneinsicht frage ich mich, wie das ohne Komplizenschaft von innen geschehen konnte – und antworte mir selbst: es konnte nicht! Aber ob nun allein Deutsche oder Amis im Spiele waren, ob es darum geht, daß NS-Vergangenheit von persönlich interessierter Seite vertuscht, oder ob belastende Papiere wie heilige Gebeine verscherbelt wurden: Verwundern darf dieses neueste Nachspiel um das Erbe Hitlerdeutschlands kaum.

Der Satyr-Szene wohnt sogar eine Art Logik inne: Da folgt dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die umgebracht wurden wie Insekten, auf dem Territorium der Bundesrepubik Deutschland und West-Berlins das größte Wiedereingliederungswerk für Täter, das es je gegeben hat. Da legt diese zweite deutsche Demokratie mit der Übernahme des NS-Beamtenapparates durch das sogenannte 131er-Gesetz und mit der kalten Amnestie des kalten Krieges ihr Fundament, den großen Frieden mit den Tätern, darunter die Massenmörder des Vernichtungsapparats. Da besiegelt sie diesen Geburtsfehler, der sie befreit ins dritte Jahrtausend hinken lassen wird, mit der organisierten Straffreiheit für sämtliche NS-Richter. Da werden von der bundesdeutschen Justiz, wie zum Hohn und über drei Jahrzehnte schon, die letzten, die untersten Glieder in der Kette des industriellen Serien-, Massen- und Völkermords angeklagt, während die Funktionselite des Dritten Reiches, soweit überhaupt verurteilt, seit Mitte der fünfziger Jahre im Zuge der neudeutschen Bündnisfähigkeit frei herumlaufen darf.

Und nun sehen sich 80.000 Naziakten geklaut – wer glaubt angesichts dieser zeitübergreifenden Entschuldungspraxis der bundesdeutschen Gesellschaft und ihrer West- Berliner Dependance für die Täter von gestern noch an Zufall? Er waltet so wenig wie bei Kurt Waldheim die Unfähigkeit zu gestehen – jene letzte nachrichtliche Entsprechung zur Horrormeldung aus Berlin-Dahlem. Es wird nicht die allerletzte sein, die wir im Kleindeutschland von heute aus dem braunen Sumpf des großen von gestern zu erleiden haben werden. Ralph Giordano