: Wiener im Strudel
■ Österreich ist nach Waldheims larmoyanter Rede tief gespalten *B
Waldheim soll gegen seine Gegner härter durchgreifen, fordern die einen. Er soll abtreten und dem Land nicht noch mehr Schaden zufügen, die anderen. Die Mehrheit für Waldheim bröckelt, seit er Montagabend selbstgerecht nur eine „Beruhigung der Debatte“ forderte und offenbarte, daß er an einen Rücktritt nicht einmal denkt. Statt dessen mehren sich die Spekulationen um einen Rücktritt von Bundeskanzler Vranitzky: Wird Österreich bald von einer Koalition aus Konservativen und Deutschnationalen regiert?
Es wird lauter in Wiens Straßen. Es sind nicht mehr nur die Demonstrationen, sondern auf öffentlichen Plätzen, in U-Bahnhöfen und Cafes wird gestritten und diskutiert. Stellt man an vorbeieilende Passanten trocken die Frage: „Was halten Sie von der Fernsehansprache Kurt Waldheims?“, so ist es, als habe man in ein Wespennest gestochen: „Die Israelis versuchen, unser Land kaputtzumachen. In Israel werden den Menschen die Augen ausgeschossen, sie werden lebendig begraben. Die Israelis haben nichts dazugelernt. Aber wir...“, so schimpft der eine. „Die Rede war nur Blabla. Waldheim sollte stärker durchgreifen gegen diese Schmutzfinken, die jugoslawischen Fälscher mit ihren Lügen vom Bazar, gegen den (Wiener Bildhauer) Hrdlicka, der unser Geld kassiert, und gegen die Hetzjagd des Jüdischen Weltkongresses“, fordert ein 35jähriger Großhandelskaufmann. Ein alter Mann schreit ihn daraufhin an: „Was wissen Sie denn! Die Waldheims haben meine Eltern umgebracht. Sie glauben, alles ist Vergangenheit, aber die Wunden sind noch offen. Ich schrecke noch heute aus Angstträumen hoch. Es gibt kein Vergessen.“ Eine 25jährige Architekturstudentin hingegen bemerkt sarkastisch: „Am lustigsten wäre es, wenn der Waldheim jetzt noch die ganze Regierung absetzen würde.“ Als ich weggehe, diskutieren die Leute weiter, neue Trauben streitender Bürger bilden sich. Nach einem zwei Jahre dauernden Streit um Waldheim bricht nun zum ersten Mal seit der Gründung der Zweiten Republik eine offenere Auseinandersetzung um den NS-Staat aus.
Doch Wien ist auch die Würstchenbude am Freitagabend. Einige junge Männer stehen dort, ein weiterer kommt dazu. Auf dem Kopf trägt er ein Käppchen. „Bist du ein Jud?“, wird er sofort gefragt. Als er antwortet, sein Vater sei in Auschwitz ermordet worden, wird ihm entgegnet: „Mein Vater ist auch in Auschwitz gestorben. Er ist besoffen vom Wachturm gefallen.“ Ein bisher unbeteiligter Bürger mischt sich ein, will dem jüdischen Bürger helfen. Doch die anderen „Diskutanten“ greifen ihn an, jagen ihn bis auf den U-Bahnsteig und verprügeln ihn. Hunderte wartender Pendler machen höflich Platz und schauen zu. „Die Polarisierung Österreichs ist nicht mehr aufzuhalten“, sagt dazu der Grüne Nationalratsabgeordnete Walter Gayer.
Die Polarisierung scheint auf allen Seiten Ängste auszulösen. Angst vor dem Verlust der Macht im einen Lager, vor gesellschaftlicher Stigmatisierung und Isolierung in dem anderen. Nach der Veröffentlichung des Historikerberichts zu Waldheims Vergangenheit ist die ihn stützende Mehrheit gebröckelt. Selbst der Generalsekretär der konservativen ÖVP, Helmut Kukacka, der in Waldheims Fernsehansprache noch einen „neuen Ansatzpunkt zur Diskussion um das höchste Amt im Staate gesehen“ und seine „offenen und ehrlichen Worte“ gelobt hatte, erklärte am Dienstag, der Bericht der Historikerkommission habe auch in Parteikreisen Unsicherheit bewirkt. Die Meinung über den Bundespräsidenten habe „einen gewissen Rückschlag“ erlitten.
Auf der Seite der Waldheimgegner herrscht Uneinigkeit darüber, ob die Polarisierung weitergetrieben werden soll, oder ob das Österreich schade. Theoretisch hätte die Grüne Parlamentsfraktion die Möglichkeit, durch einen Antrag auf eine Volksabstimmung im Parlament die lavierende SPÖ zur Stellungnahme zu zwingen. Darauf haben die Grünen bisher verzichtet, da sie, nach den Worten des Abgeordneten Gayer, sich „erst einmal darüber klar werden müssen, ob wir eine weitere Polarisierung politisch wollen“. Es wird befürchtet, daß dann „viel hochkommt, was gefährlich werden könnte“. Wenn die Frage der Mitverantwortung Waldheims an NS-Verbrechen offen diskutiert würde, stünde sofort auch die Mitverantwortung Tausender anderer österreichischer Bürger zur Diskussion. Und die Waldheimgegner schrecken davor zurück, eine Auseinandersetzung zu beginnen, in der sie sich einer großen Mehrheit ihrer Landsleute entgegenstellen müßten. So bleibt der Protest bislang großen teils auf das Verfassen von Petitionen beschränkt.
Offen ist die Auseinandersetzung inzwischen in der Regierung ausgebrochen. Während Vizekanzler Alois Mock von der ÖVP den „Appell des Bundespräsidenten zu Gemeinsamkeit und Versöhnung in der Rede begrüßt und akzeptiert“ hatte, erklärte ÖVP- Wirtschaftsminister Robert Graf, der Fall Waldheim belaste die Koalition und lasse auch wirtschaftliche Rückschläge im Außenhandel befürchten. SPÖ-Zentralsekretär Heinrich Keller erklärte zu der Ansprache: „Das bedeutet, daß er (Waldheim) weiterhin eine unglaubliche Belastung für unser Land sein wird. Er zeigt, daß er nicht die geringste Distanz zu den Ereignissen von seinerzeit hat. Insbesondere zeigt er nicht die geringste Einsicht in ein mögliches Fehlverhalten von seinerzeit, das er damals gar nicht als Fehlverhalten erkannt haben mag“, meinte Keller. Er glaube nicht, daß Österreich auf Vranitzky verzichten könne, die Frage, ob Österreich auf Waldheim verzichten könne, würde er jedoch jederzeit mit „Ja“ beantworten.
Am deutlichsten äußern sich die Grünen. Ihre Vorsitzende, Freda Meißner-Blau, erklärte, daß Waldheim „auf seiner Funktion beharrt und den Schaden leugnet, den er national und international Österreich zugefügt hat“.
Die Ankündigung von Bundeskanzler Franz Vranitzky, er werde möglicherweise zurücktreten, falls die Affäre Waldheim nicht gelöst werde, hat unterdessen auch in SPÖ-Kreisen Bedenken ausgelöst. Politische Beobachter in Wien vermuteten, mit Vranitzkys Rücktritt würde auch die Koalition zerbrechen. Und dann wäre es möglich, daß Waldheim seinen engagiertesten Verteidiger, ÖVP-Parteichef Alois Mock, mit der Regierungsbildung beauftrage. Mock könnte dann mit dem Chef der rechtsnationalen Freiheitlichen Partei Österreichs, Jörg Haider, eine neue Koalition eingehen. Der hätte sicher keine Probleme mit Waldheims Vergangenheit. Und dann gnade dir Gott, Österreich. Walter Oswalt/ant
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