Freie Bahn für die Gesinnungsjustiz

Erste Prozeßrunde gegen mutmaßliche und tatsächliche VertreiberInnen der radikal 132 ist beendet / Die meisten der §129a-Verfahren wurden eingestellt, dennoch hat der Staatsschutz sein Ziel erreicht: Die radikal ist aus dem Buchhandel verbannt und in den Untergrund abgedrängt worden  ■ Aus Bonn Oliver Tolmein

Anfang Februar konnten die BuchhändlerInnen des linken Buchladens „Gegenwind“ in Hamburg aufatmen: Das Oberlandesgericht hatte entschieden, den Prozeß wegen „Werben für eine terroristische Vereinigung durch Verkauf der Zeitschrift radikal nicht zu eröffnen. Die Hamburger Richter stellten zwar fest, daß nach wie vor „erheblicher Tatverdacht“ gegen den Angeklagten bestehe, ihm könne aber nicht mit ausreichender Sicherheit eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden.

Die Staatsanwaltschaft nahms hin und ließ die 14tägige Berufungsfrist verstreichen. Mit dem Hamburger Beschluß und den Richtersprüchen in Stuttgart vergangene Woche ist damit die erste Prozeßrunde gegen mutmaßliche und tatsächliche VertreiberInnen der Radikal 132 beendet. Jetzt stehen, nach Informationen der taz, nur noch die Revisionsverhandlungen der verurteilten BuchhändlerInnen aus Bonn und Detmold sowie der mit relativ hohen Strafen belegten HandverkäuferInnen aus Stuttgart und Karlsruhe aus. Der Revisionsantrag des verurteilten Handverkäufers aus Hanau wurde bereits als „offensichtlich unbegründet“ zurückgewiesen.

Ein kurzer Blick auf die Prozeßbilanz könnte zufrieden stimmen: Etwa 30 Verfahren sind eingestellt worden, mindestens fünf der eröffneten Prozesse endeten mit Freisprüchen. Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Ermittlungsbehörden ihr Ziel weitgehend erreicht haben: Die radikal ist aus dem Buchhandel verbannt und kann von HandverkäuferInnen nicht mehr offen angeboten werden.

Das Abdrängen der Zeitung in den Untergrund ist in recht kurzer Zeit vollständig gelungen. Kein einziges Gericht hat bezweifelt, daß der Vertrieb der radikal 132 ein „Werben für die terroristische Vereinigung RAF“ darstellt, weil in ihr ein Gruß an das Kommando, das den Atommanager Beckurts getötet hat, dokumentiert war. Damit sind der Möglichkeit für linksradikale Zeitungen, Texte zu veröffentlichen, ohne sich deren Tendenz zu eigen machen zu müssen, enge Grenzen gesetzt. Mit großer Selbstverständlichkeit hat die Öffentlichkeit auch hingenommen, daß Strafe und Strafmaß nahezu ausschließlich von der politischen Gesinnung der Angeklagten abhängig gemacht wurden. Der Abstumpfungsprozeß gegenüber der politischen Justiz ist weit gediehen – auch das ist als Erfolg der beharrlichen Verfolgungsarbeit des Staatsschutzes zu werten.

Besonders offensichtlich wurde die Praktizierung bloßer Gesinnungsjustiz während des gerade beendeten Prozesses in Stutt gart. Die Ausgangslage war für die drei Angeklagten völlig gleich: Nach Auffassung des Gerichts waren sie als HandverkäuferInnen mit der radikal beliefert worden. Der vierte Angeklagte war Buchhändler. Er distanzierte sich im Verlauf des Prozesses jedoch von der radikal und ihren Inhalten und wurde freigesprochen.

Die Urteile für die anderen drei fielen trotz gleicher Anklage und gleicher Beweislast sehr unterschiedlich aus. Einer wurde freigesprochen, weil von den zehn radikal, die er laut Paketkarte erhalten hatte, sieben bei der Hausdurchsuchung beschlagnahmt wurden, er die fehlenden drei später ans LKA geschickt hatte und ihm deshalb eine Verbreitung nicht nachzuweisen war.

Auch den beiden anderen Angeklagten konnte die Verbreitung nicht nachgewiesen werden. Da bei ihnen aber weder alle angeblich gelieferten Ausgaben beschlagnahmt werden konnten, noch sie später dem LKA radikal-Ausgaben zuschickten, wurde angenommen, die fehlenden Zeitungen seien verteilt worden.

Selbst diese beiden Angeklagten erhielten aber unterschiedlich hohe Strafen. Während der eine versucht hatte, die Gerichtsverhandlung durch komische Auftritte und lockere Sprüche zu konterkarieren, gab die andere eine Erklärung ab, in der sie einen Zusammenhang zwischen diesem Zensur-Prozeß und den Verhaftungen von Ingrid Strobl und Ulla Penselin herstellte. Grund genug für den Richter, sie zur antiimperialistischen Szene zu rechnen und deshalb zu sieben Monaten Haft auf drei Jahre Bewährung zu verurteilen, während dem anderen Angeklagten seine „künstlerische Ader“ zugute gehalten wurde: Möglicherweise habe er den Inhalt dieser radikal deswegen nicht vollständig gekannt. Er erhielt vier Monate Haft auf drei Jahre Bewährung.

Als weitaus folgenreicher dürften sich aber die Urteile gegen die Buchhändler aus Detmold und Bonn erweisen – vorausgesetzt sie werden bestätigt. Das verurteilende Oberlandesgericht Düsseldorf hat, das ist den schriftlichen Urteilsbegründungen (V 8/87 3 OJs 73/86 und V 6/87 3 OJs 78/86) zu entnehmen, darauf verzichtet, eine individuelle konkrete Tat, nämlich den Verkauf, nachzuweisen. Die Feststellung, daß Alternativbuchläden Tendenzbetriebe seien, hat dem Gericht ausgereicht, auch die exakte Kenntnis der gesamten radikal anzunehmen. Und das, obwohl der Bundesgerichtshof 1987 in einer Revisionsverhandlung ebenfalls in Zusammenhang mit der radikal das Urteil des Kammergerichts West- Berlin bestätigt hatte: „Im Normalfall kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Inhaber eines Buch- und Zeitschriftenhandels alle in seinem Geschäft feilgebotenen Druckerzeugnisse vor dem Verkauf liest.“

Für das OLG Düseldorf ist der linke Buchhandel jenseits des Normalfalles: „(Es) unterliegt auch keinem vernünftigen Zweifel, daß er (der Angeklagte, Anm. d. Red.) zusammen mit Z. und S. aufgrund gemeinsamen Entschlusses auch am Verkauf dieser Druckschrift mitgewirkt hat. Dafür spricht die Lebenserfahrung. Hinzu kommt die im Buchladen praktizierte kollektive Ladenführung“, heißt es wörtlich im Urteil gegen den Bonner und fast gleichlautend im Beschluß gegen den Detmolder Angeklagten. Und weiter: „Daß der Angeklagte, Z. und S. zumindest, den Text der Grußadresse und den des Kommuniques vor dem Verkauf der Schriften aufmerksam gelesen haben ..., steht für den Senat außer Frage.“ Kein eleganter, aber doch ein sehr wirkungsvoller Weg, jede Beweisnot aus dem Weg zu räumen.

Mit den beiden Urteilen ist ein Exempel statuiert worden – daß es auf mehr erstmal nicht ankam, zeigt sich daran, daß gegen die nach der Düsseldorfer „Kollektivschuld“-These genauso strafwürdigen anderen Betreiber der Buchläden „46“ und „Distel“ keine Hauptverhandlung eröffnet wurde. Wichtiger, als einzelne Buchhändler in den Knast zu stecken, war dem OLG Düsseldorf wohl der politische Warnschuß. BuchhändlerInnen müssen auf Grundlage einer ganz einfachen Logik künftig damit rechnen, für jedes Buch und jede Broschüre, die sie in ihrem Sortiment führen, angeklagt werden zu können. Als MitarbeiterIn eines Tendenzbetriebes, so wird vorausgesetzt werden, kennen sie genauestens den Inhalt ihrer Bücher. Und als Mitglieder eines Kollektivs seien sie an allen Entscheidungen, also auch an der, die inkriminierte Druckschrift zu verkaufen, beteiligt.

Wirklich brisant können die Folgen dieses Urteils werden, wenn der noch sehr viel weiter als der jetzt angewandte Paragraph 129a auszulegende neue Paragraph 130b (Strafbarkeit der Befürwortung von Gewalt) eingeführt wird: Dann müssen linke BuchhändlerInnen, wollen sie Haftstrafen vermeiden, ihre Sortimentstitel von einem Juristen aussuchen lassen. Je größer der Buchbestand, desto größer das Risiko, doch mal was zu überlesen.

Spendenkontos: Prozeß Stuttgart: A. Kunkel, PschA Essen, 117096-431, Stichwort: radikal;

Prozeß gegen „Buchladen 46“: Holger Schwab, PschA Köln, 333256-505;

Buchladen „Distel“: Schubertplatz 1, 4930 Detmold