: Kohl zum Aussitzen nach Washington
Kohl und Genschers Reise in die USA dient dem Zeitgewinn im NATO-Streit um die Modernisierung der atomaren Kurzstreckenwaffen / Außerdem soll geklärt werden, ob die USA sich verpflichtet haben, keine neue US-Chemiewaffen in der BRD zu stationieren ■ Aus Genf Andreas Zumach
Nicht ein klares Nein zur „Modernisierung“ nuklearer Waffen mit einer Reichweite unter 500 Kilometer, sondern die Hoffnung auf Zeitgewinn und ein Abflauen der öffentlichen Debatte – das ist die Strategie für die bis Freitag dauernden Gespräche des Bundeskanzlers in Washington. Die von den USA geforderte Bekräftigung des Modernisierungsbeschlusses der NATO von Montebello 1983 soll verhindert werden. Denn auf dem Gipfeltreffen der Allianz- Staatschefs am 2./3. März in Brüssel wird die Bundesregierung erneut unter Druck geraten. Doch die Bonner Regierung will die Debatte frühestens auf der NATO- Außenminister und Verteidigungsminister-Konferenz im April im dänischen Poulding führen.
Die Rahmenbedingungen sollen dort für die Bundesregierung günstiger sein. Die Außenminister hatten nämlich auf ihrer letzten Tagung im Juni 87 in Reykjavik den NATO-Rat mit der Erarbeitung eines „Gesamtkonzepts Rüstungskontrolle und Abrüstung“ beauftragt. Außerdem verweist Kohl inzwischen darauf, daß die „Modernisierung“ der nuklearen Kurzstreckensysteme in Montebello ja nicht endgültig beschlossen, sondern nur „ins Auge gefaßt“ worden sei. Der genaue Beschlußtext ist geheim. Im Kommunique der Tagung findet sich allerdings nur die jetzt von Kohl zitierte Formulierung.
Die Strategie Kohls soll außerdem darüber hinwegtäuschen, daß die USA einen Teil der „Modernisierung“ ohne weitere Konsultationen mit den Verbündeten längst begonnen haben. Die 203 Millimeter-Atomgranaten werden seit 1986 durch weitreichendere, treffgenauere Systeme ersetzt (siehe taz vom 13.2.).Zusammen mit der modernisierten Version der 155 Millimeter Granate sollen 925 dieser atomaren Artilleriesysteme stationiert werden. Der US- Kongreß drängt bereits auf höhere Stückzahlen. Besonderen Druck übt die US-Regierung hinsichtlich der Nachfolgesysteme für die Lance-Raketen aus.
Die Gelder für die mit konventionellen Sprengköpfen bestückten mit einer Reichweite von 80-100 Kilometer hat der Kongreß bereits im Rahmen der für notwendig befundenen konventionellen Stärkung der NATO bewilligt. Doch die Haushaltsmittel für die mit Nuklearsprengköpfen versehenen Lance-Systeme – Reichweite 250-320 Kilomter – will das US-Parlament erst nach einer Stationierungszustimmung der westeuropäischen NATO-Partner erteilen.
Das vierte in Montebello „ins Auge gefaßte“ neue Waffensystem ist eine flugzeuggestützte nukleare Abstandsrakete. Außerdem ist ein Ersatz der B 43-Nuklearbomber durch Versionen des Typs B83/61 vorgesehen. Auf das 1983 ebenfalls vorgesehene Nachfolgesystem für die Pershing Ia dürfte im Falle einer Ratifizierung des Mittelstreckenvertrages verzichtet werden.
Zwar nicht unter die Kurzstreckensysteme unter 500 Kilometer, aber unter die „Modernisierungs“- vorhaben fallen die 1.300 luft- und 600 seegestützten Cruise Missiles, die die USA allein im europäisch-atlantischen Bereich stationieren will. Wobei noch nicht entschieden ist, ob diese auch auf Schiffen und Flugzeugen der NATO stationiert werden sollen.
Kohl und Außenminister Genscher wollen auch die bundesdeutsche Forderung nach einem weltweiten Verbot der Chemiewaffen unterstreichen.
Zur Frage der Stationierung binärer Waffen in der Bundesrepublik wurde vor ihrer Abreise nach Washington lediglich dementiert, was niemand bislang behauptet hat. Es sei nicht bekannt „daß die Bundesregierung rechtlich verpflichtet ist, neue C-Waffen zu stationieren“.
Die Äußerung des US-Botschfters in Genf, Friedersdorf, über die Nichtverbindlichkeit diesbezüglicher Absprachen über die Reagan-Regierung hinaus (siehe taz vom 3.2.88) ist bis heute von der US-Administration nicht korrigiert worden. Ein angeblich existierender Briefwechsel Kohl/Reagan ist nicht veröffentlicht. Hingegen hatte sich der NATO-Oberkommandierende, Galvin, vergangene Woche für eine Stationierung der binären Waffen „da wo die Truppen sind“ – also in der Bundesrepublik – ausgesprochen.
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