„Ihr macht euer eigenes Land kaputt“

Ein „normaler“ Tag im israelisch besetzten Gaza-Streifen / Eine Reportage  ■ von Hal Wyner

Ein 25jähriger palästinensischen Jugendlichen. Unter den Opfern der Besatzungspolitik wächst die Verbitterung und macht eine politische Lösung, selbst wenn die israelische Regierung eine wollte, immer schwieriger. „Seid ihr blind, seht ihr nicht, wie ihr euer eigenes Land zerstört?“, hat eine Palästinenserin den Soldaten zugerufen, die sie sinnlos schikanierten. Eine Reportage über den Prozeß der Zerstörung.

Man fährt etwa anderthalb Stunden von Jerusalem nach Gaza, den größten Teil über Landstraßen. Dieses Jahr war der Winter besonders regnerisch. Jetzt fängt langsam der Frühling an. Alles ist sehr grün. In den letzten Jahren bin ich diese Strecke öfters gefahren, kam jedoch nie weiter als bis Ashkelon, den Ferienort an der Mittelmeerküste, 25 Kilometer nördlich von Gaza. Die Schönheit der Landschaft symbolisierte für mich immer irgendwie die Verwirklichung des Traums vom jüdischen Staat. Die schlechten Straßen, die Felder und Orangenhaine, die verblichenen, leicht zu übersehenden hebräischen Straßenschilder, die nach Kfar Warburg, Kfar Menachem und andere im Pioniergeist gegründeten Dörfer und Kibbutzim weisen – immer hatten sie einen sentimentalen Reiz für mich. Heute ist dieser Reiz weg.

Versehentlich zwischen die Fronten geraten

Die Wachposten bei Erez, dem Grenzübergang von Israel zum Gaza-Streifen, holen mich in die Realität zurück. Wenn man, wie ich, mit einer ausländischen Autonummer fährt, wird man meistens nicht angehalten. Dennoch muß man jetzt langsamer und viel vorsichtiger fahren. Die Orangenhaine an den Straßenrändern sind ideale Verstecke für jeden, der Steine oder Molotow-Cocktails auf vorbeifahrende Autos werfen will. Wie genau die Nummernschilder angeschaut werden, bevor geworfen wird, ist nicht ganz klar. Vor kurzem bat mich ein junger Palästinenser aus Gaza, „in die Zeitung zu schreiben“, daß es den Steinewerfern leid tut, wenn sie ein ausländisches Auto treffen. „Das passiert nur manchmal aus Versehen“, versichert er. Über die Paradoxie, daß man sich als Jude, der gerade in der Prozedur der Auswanderung nach Israel steckt, hinter einem deutschen Autokennzeichen schützen muß, sprachen wir nicht.

Etwa zehn Kilometer nach dem Grenzübergang ein großes buntes Schild: Zwei Bögen, die die Straße überspannen, wie beim Eingang zu einem Rummelplatz: „Welcome to Gaza“, auf englisch, hebräisch und arabisch. Die Orangenhaine am Straßenrand sind verschwunden, haben Autowerkstätten Platz gemacht. Bis vor zwei Monaten konnte man hier sein Auto billig reparieren lassen. Dafür war Gaza in ganz Israel bekannt. Jetzt ist alles geschlossen. In den ersten Wochen des Aufstands war diese Straße Szene großer Demonstrationen. Überall hing der schwarze Rauch brennender Autoreifen. Massen steinewerfender Palästinenser traten hier gegen die israelische Armee an. Durch Ausgangssperren ist es dem Militär gelungen, solche Demonstrationen zu verhindern, und seit Ende Dezember ist die Straße wieder frei.

Krankenhausruhe in Gaza

Die eigentliche Stadt fängt am Friedhof an, Ecke El-Wahida- Straße, eine der zwei großen Geschäftsstraßen in Gaza. Auch hier sind seit Mitte Dezember die Läden geschlossen. Der Platz vor dem Friedhof ist dafür zum offenen Markt geworden. Hier werden Gemüse, Fleisch, Zeitschriften und Kleider verkauft. Junge Männer verstecken sich hinter Grabsteinen, um die neuen Jeans anzuprobieren. Am Ende der El- Wahida-Straße die ockerfarbene Mauer, die das Gelände des Schifa-Hospitals umgibt, eine Einrichtung der israelischen Militärverwaltung. Auch hier gab es im Dezember gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Soldaten. Jetzt kann man ungestört durch die Gänge des Krankenhauses wandern und Verwundete aus den Lagern besuchen. Ich war vor einigen Wochen da, kurz nachdem die Armee angefangen hatte, den Demonstranten durch Schläge Arme und Beine zu brechen. Die Säle waren voll. Ein 80jähriger Mann mit gebrochenem Arm hatte Prellungen am ganzen Körper, ein 16jähriger Junge war paralysiert durch einen Bauchschuß. Im Schifa-Hospital fehlten die Einrichtungen für eine angemessene Behandlung. Wegen des anhaltenden Streiks in den israelischen Krankenhäusern konnte er auch nicht transferiert werden. Später hörte ich, daß er schließlich in einem Jerusalemer Krankenhaus operiert werden konnte. Die Überlebenschancen seien dennoch nicht groß, hieß es.

„Die letzte Woche war die schlimmste seit Beginn des Aufstands“, erzählt mir ein palästinensischer Anwalt, den ich vor zwei Monaten in Gaza kennengelernt hatte. „Vor drei Tagen begann eine neue Verhaftungswelle. Nachts kann niemand mehr schlafen. Sie warten auf die Soldaten. Jetzt haben sie angefangen, Menschen totzuschlagen. Bei einer Demonstration erschossen zu werden, ist nicht so schlimm“, meinte er, „aber bevor man an den Schlägen stirbt, leidet man sehr.“ Im Ahli Arab-Hospital, dem einzigen privaten Krankenhaus in Gaza, höre ich Ähnliches. Eine Krankenschwester wollte wissen, ob ich am Grenzübergang in Erez Schwierigkeiten gehabt hätte. „Nein, wieso?“, frage ich. „Es sind so wenig Journalisten gekommen in der letzten Woche“, meint sie, „wir dachten, die Israelis hätten sie vielleicht ausgesperrt. Warum kommen die Journalisten nicht? Ohne sie wird niemand erfahren, was hier los ist.“

Regelrecht totgeschlagen

Während die Journalisten weg waren, wurde der 19jährige Khader Elias Fouad Tarazi von israelischen Soldaten mit Stöcken totgeschlagen. So zumindest berichten arabische Augenzeugen. Die israelische Armee hat sich zu dem Fall bisher nicht geäußert – sie untersucht. Ärzte haben jedoch bestätigt, daß Tarazi schwere Kopfverletzungen hatte (man konnte in den Kopf hineinlangen, sagt die Familie), und Fotos der Leiche zeigen deutlich, daß beide Beine und ein Arm an mehreren Stellen gebrochen wurden und daß Tarazi vor seinem Tod schwere innere Blutungen hatte.

Die Beerdigung wurde am Mittwoch, den 10.Februar, abends abgehalten und entwickelte sich zu einer großen Protestdemonstration, die mit Tränengas aufgelöst wurde. Daß dieser Fall überhaupt an die Öffentlichkeit kam, liegt vor allem daran, daß Tarazi aus einer prominenten christlichen Familie in Gaza stammt – ein Ver wandter ist Chefingenieur in der Gaza-Stadtverwaltung, ein anderer Chefchirurg im Schifa-Hospital. Gazas Bewohner behaupten, daß es letzte Woche mindestens sechs ähnliche Fälle gegeben habe.

Tarazis Familie lebt in einem Wohnviertel am Stadtrand. Vor dem Haus wurden große Fotos von Khader Tarazi an Masten angebracht, darunter handbeschriftete arabische Plakate: „Wer glaubt, wird weiterleben, auch im Tod“ und „Das Nationale Aufstandskomitee trauert um den Helden Khader Tarazi. Wir kämpfen weiter“. In drei Zimmern werden die Trauergäste empfangen; in jedem Zimmer etwa 15 Stühle an den Wänden entlang, draußen im Garten weitere 50 bis 60 Stühle. Man trinkt ungesüßten Kaffee aus kleinen Porzellantassen, „weil er so jung war“, erklärt mir ein Onkel. „Wenn ein alter Mann stirbt, macht man den Kaffee sehr süß.“ Wir warten auf Abu-Isser, einen Freund der Familie, der gut Englisch spricht.

Als er kommt, wird er als Ehrengast empfangen. Er ist groß, weißhaarig, europäisch gekleidet und zeigt noch die Manieren, die er von den Engländern während der Mandatszeit lernte. Langsam und jedes Wort abwägend erzählt er von Khaders Tod, wie Khader auf seinem Fahrrad durch die Straßen fuhr und sich plötzlich zwischen Demonstranten und Soldaten befand, wie er daß Fahrrad liegenließ, in das Haus von Freunden rannte, wie er von Soldaten verfolgt wurde, wie er im Haus, dann auf der Straße, dann in einem Armee-Jeep geschlagen wurde, wie ihm das Blut aus dem Mund lief, wie ein Offizier den Soldaten den Befehl gab, ihn „fertig zu machen“, wie er im Jeep weggefahren wurde. Als ich frage, ob er ins Krankenhaus gebracht wurde, lachen die Trauergäste und klopfen mir auf den Rücken, gerührt durch die naive Frage. „In Amerika und Europa gibt es doch Tierschutzvereine“, sagt einer, „vielleicht könntet ihr jetzt einen Palästinenserschutzverein gründen.“ „Wir hier sind uns alle sicher, daß der Junge unschuldig war“, fährt Abu-Isser fort, „aber selbst wenn wir uns irren, wenn er doch einen Stein geworfen hat – ist das die Strafe dafür?“ „Kein Volk in der Geschichte der Menschheit wurde jemals so grausam behandelt wie wir von den Israelis“, sagt der alte Mann mit den englischen Manieren, „man müßte ein neues Wort dafür erfinden.“

„Kassem wurde verhaftet“

Wie soll ich den Freunden und Verwandten eines von Juden er schlagenen Jungen aus der jüdischen Geschichte erzählen? Vom Unterschied zwischen einem Flüchtlingslager und einem Konzentrationslager sprechen? Soll ich ihnen von Dr. Mengele erzählen? Soll ich sie in eine semantische Diskussion über das Wort Deportation verwickeln, ihnen sagen, daß Deportationen im Fall der Juden in Gaskammern, im Fall der Palästinenser über Landesgrenzen führen? Daß darin der Unterschied liegt? Wozu? Grausamkeiten lassen sich nicht gegeneinander aufwiegen. Bevor ich Gaza verlasse, halte ich am Marna House, dem kleinen Hotel in Strandnähe, um die Ecke vom Schifa-Hospital, in dem die ausländischen Journalisten meist übernachten. Auch wer hier nicht übernachtet, kann Kaffee, Sandwiches und Informationen bekommen. Alya, die Besitzerin, sitzt in dicke Pullover gehüllt wie gewohnt hinter ihrem Schreibtisch. Ich frage nach Kassem, dem jungen palästinensischen Journalisten, der mich in den letzten Wochen immer wieder durch die Straßen, Lager und Dörfer des Gaza- Streifens begleitet hat. Ich habe ihn den ganzen Tag nicht auftreiben können. „Kassem wurde vor zehn Tagen verhaftet“, sagt Alya. „Sie haben ihn am 2.Februar geholt. Bis jetzt hat niemand ihn besuchen dürfen.“

Als ich Kassem das letzte Mal sah, hatte er geahnt, daß man ihn holen würde. Schon als Student und Mitglied des Studentenrates der West-Bank Universität Bir- Seit war er dem israelischen Geheimdienst Schin-Beth aufgefallen und im Laufe der Jahre ein paar Mal verhaftet worden. Ende Januar, sagt Alya, hätte der Schin- Beth angefangen, die der ausländischen Presse behilflichen lokalen Journalisten einzusammeln. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch ihn erwischten. Kassem hatte mir auch erzählt, daß er vor einem bestimmten Schin-Beth- Offizier Angst hatte, einer, der ihn haßte. In den ruhigeren Zeiten vor dem Aufstand hätte er seiner Wut nicht freien Lauf lassen können. Jetzt jedoch, wenn er wolle, könne er ihm beide Beine brechen. Zwischen all den anderen würde dieser eine Fall nicht mehr auffallen. Ich würde, sagte ich Alya, in Jerusalem mehr über Kassem herauszufinden versuchen. Wir wußten jedoch beide, daß es nicht viel nützen würde.

Beim Verlassen des Hotels traf ich Miss Barbary, Leiterin der „Palestine Womens Union“. Etwa 60 Jahre alt, im schwarzen Wollkostüm, die silbergrauen Haare im Pferdeschwanz zusammengebunden, wirkt Miss Barbary wie eine Schulmeisterin. Vor drei Wochen waren die Soldaten auch bei ihr im Büro, erzählt sie. „Sie sagten, daß ich Mehrwertsteuer schulde und nahmen die Akten der letzten 25 Jahre weg. Wir sind doch eine Wohlfahrtsorganisation, sagte ich“, erklärte Miss Barbary. Auf die Stickereien und anderen Heimarbeiten, die sie verkaufe, sei trotzdem Mehrwertsteuer zu entrichten, behaupteten die Soldaten. „Und um mir das mitzuteilen, braucht ihr zehn Soldaten mit Maschinengewehren? Seid ihr derart blind, daß ihr nicht seht, wie ihr mit solchem Unfug nicht uns, sondern Euch selbst und Eurer eigenes Land kaputtmacht?“, fragte Miss Barbary die Soldaten.

Am späten Abend bin ich wieder in Jerusalem, wo die Spuren des friedlichen Zusammenlebens von Arabern und Juden, um das Bürgermeister Teddy Kollek 20 Jahre lang so bemüht war, in einem Steinhagel verwischt wurden. Im Ohr habe ich noch die Worte eines palästinensischen Studenten, den ich als Anhalter aus Gaza mitnahm: „Bis jetzt haben wir nur mit Steinen gekämpft. Aber wenn die Israelis nicht nachlassen und das so weiter geht, werden wir mit Waffen kommen. Dann wird es hier so aussehen wie im Libanon.“