Ein neues Bildungswesen braucht das Land

■ ZK-Plenum in Moskau diskutierte zwei Tage lang über die Mängel des alten und Perspektiven eines neuen Schulsystems / Ligatschow: „Mehr Sozialismus heißt mehr Vielfalt“ / Individuelle Fähigkeiten der Jugend fördern, denn in ihren Händen und Köpfen liegt die Zukunft

Berlin (nowosti/taz) – Das sowjetische ZK-Plenum beendete gestern seine zweitägige Diskussion über eine Reform des Bildungswesens. In seiner Rede vor den rund 300 ZK-Mitgliedern ließ Parteichef Gorbatschow keinen Zweifel daran, daß der Reformkurs fortgesetzt werde.

„Von der Ausbildung und beruflichen Qualifizierung der heutigen und der kommenden Generationen hängt in entscheidendem Maße die Zukunft des Landes und das Schicksal des Sozialismus selbst ab“, hatte am Mittwoch der zweite Mann im Kreml, Jegor Ligatschow, seine Rede vor dem Plenum des ZK der KPdSU zur Reform im Erziehungswesen eingeleitet. Der jetzige Zustand des Bildungswesens aber entspreche nicht mehr den Anforderungen, die durch die Perestroika gestelltwürden. Die vor vier Jahren noch unter Breschnew eingeleitete Schulreform sei nicht mehr weitgehend genug. „Der evolutionäre Charakter dieser Reform ist in Widerspruch zum revolutionären Wesen der von der Partei eingeleiteten Umgestaltung geraten“, erklärte Ligatschow und kritisierte, daß die allgemeinbildende Schule den „heutigen Anforderungen an die Qualität der Fachausbildung der Arbeitskräfte widerspricht“. Er verlangte die Demokratisie rung sowohl der „Schule selbst wie auch der Schulverwaltung“, weil die „Zukunft des Landes und des Sozialismus von der Ausbildung der 57 Millionen sowjetischen Studierenden abhängt.“

„Die Schule“, so Ligatschow,“ muß allen Schülern eine qualifizierte Oberschulbildung vermitteln. Erst dann wird ihnen die Möglichkeit geboten, entsprechend den persönlichen und gesellschaftlichen Interessen, den individuellen Neigungen und dem Bildungsniveau zu wählen, ob sie an eine hoch-, fach- oder an eine Berufsschule gehen oder ihre Ausbildung unmittelbar in der Produktion erhalten“. Die Schule müsse Spielraum haben, „neue Unterrichtsmethoden“ zu erproben. Es müsse alles getan werden, um die individuellen Fähigkeiten der Schüler zu entwickeln. Die in diesem Jahr begonnene Selbstfinanzierung der Unternehmen erfordere die Ausbildung einer größeren Zahl von Spezialisten für Wirtschaft, Recht, Soziologie und Psychologie.

Der „zweite Mann“ der Sowjetunion schlug die Einrichtung von Selbstverwaltungsgremien an Schulen vor, in denen Pädagogen, Schüler, Eltern und Vertreter aus Betrieben zusammenarbeiten sollten. Die „Standardisierung der Methoden des Bildungswesens „ komme nicht mehr in Frage. „Der Sozialismus hat nichts mit der Vereinheitlichung der Gedanken zu tun“. „Mehr Sozialismus stellt mehr Vielfalt dar“, erklärte Ligatschow und forderte ein umfassendes System der „kontinuierlichen Bildung“. Obwohl schon heute das Bildungssystem 40 Milliarden Rubel (110 Milliarden Mark) koste, seien die Ausgaben relativ zurückgegangen. Jetzt müsse man die Investionen in das Bildungssystem verdoppeln.