Amnesty kritisiert britische Justiz

Die Menschenrechtsorganisation fordert eine Wiederaufnahme der Gerichtsverfahren gegen die Verurteilten der Tottenham-Unruhen / Zweifel an den Ermittlungs- und Gerichtsverfahren  ■ Aus London Rolf Paasch

Die Menschenrechtsorganisation „amnesty international“ (ai) hat in einem am Freitag veröffentlichten Bericht schwere Vorwürfe gegen die britische Justiz erhoben und die Ermittlungs- sowie Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den Tottenham-Unruhen von 1985 kritisiert. Minderjährige seien bis zu 15 Stunden lang, teils halbnackt, verhört worden, ohne ihnen Zugang zu Familienangehörigen oder einem Rechtsanwalt zu gewähren. Viele Geständnisse der nach den Unruhen Verhafteten seien nach Angaben der Betroffenen selbst durch „Drohungen und in einer Zwangssituation zustande gekommen“, schreibt „amnesty“. Zu den schweren Unruhen im Nordlondoner Stadtteil Tottenham war es am 6. Oktober 1985 gekommen, nachdem eine schwarze Frau bei einem rücksichtslosen Polizeieinsatz in ihrer Wohnung einen tödlichen Herzinfarkt erlitten hatte. Bei den anschließenden Gefechten zwischen vorwiegend schwarzen Jugendlichen und der Polizei im Wohnviertel von „Broadwater Farm“ war damals ein Polizist getötet worden. Die von den Massenblättern angeheizte Empörung hatte in der Folge zur längsten Serie zusammenhängender Anklageverfahren seit dem 17. Jahrhundert geführt. Zwischen Juli 1986 und Oktober 1987 wurden insgesamt 62 Gerichtsverfahren wegen Verletzung der öffentlichen Ordnung, Aufruhr, Körperverletzung und Mord durchgeführt, in denen vorwiegend Jugendliche zu oft überlangen Haftstrafen verurteilt wurden. Drei Angeklagte erhielten für den Mord an dem Polizeikonstabler lebenslänglich.

Nicht nur direkt nach der Festnahme, sondern auch im Verlaufe der weiteren „Beweisaufnahme“, mit der insgesamt 180 Polizisten über Monate beschäftigt waren, ließ der Erfolgszwang die angeblichen Hüter des Gesetzes oft zu unkonventionellen und illegalen Mitteln greifen. Nicht nur, daß bereits Ende 1985 das erst im Januar 1986 in Kraft getretene neue Polizeigesetz angewandt wurde, es wurden auch Zeugen geschmiert, Beweismittel manipuliert und Geständnisse erpreßt. Aufgrund des Mangels an forensischem Material und Zeugenaussagen beruhten fast alle Verurteilungen auf den in Polizeigewahrsam erwirkten „Geständnissen“ der Angeklagten. Die jetzt in dem ai-Report vorgebrachten Anschuldigungen gegen Polizei und Justiz bieten danach keine neuen Erkenntnisse zu der Zweifelhaftigkeit der Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. Der ai-Bericht dürfte allerdings die Position derjenigen stärken, die bereits seit längerem eine Wiederaufnahme der Verfahren fordern.