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Kraftakt der ÖTV für die 35-Stunden-Woche

■ Mit Warnstreiks in Norddeutschland soll jetzt der Einstieg in die 35-Stunden-Woche erzwungen werden / Laut ÖTV bringt jede Stunde weniger 63tausend Neueinstellungen / Der Städtetag dagegen warnt vor Gebührenerhöhung und Einschränkungen bei Dienstleistungen

Berlin (taz) – Anfang kommender Woche will die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) ihre Muskeln spielen lassen. Heute soll es dann mit Schwerpunkt in Norddeutschland richtig losgehen: Warnstreiks nicht nur bei den Müllmännern oder beim öffentlichen Nahverkehr, sondern auch in Ämtern und Krankenhäusern sollen den gewerkschaftlichen Forderungen Nachdruck verleihen.

Nach dem ernüchternden Verlauf der letzten Tarifgespräche am 12. Februar hatte die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies angekündigt, nun werde es unruhiger in den Betrieben und Behörden werden. Eine erste Kundgebung mit mehreren hundert Verwaltungsangestellten fand bereits am letzten Montag in Berlin statt. Am Donnerstag zogen Bundesbahnarbeiter in Köln mit Warnstreiks nach.

Für die ÖTV sind die auf drei Tage angesetzten Aktionen ein Test dafür, ob ihre Forderung nach Arbeitszeitverkürzung inzwischen „unten“ bei ihren Mitgliedern in den Betrieben und Verwaltungen „angekommen“ ist. Denn obwohl sich im gewerblichen Bereich dank der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten von der 40-Stunden-Woche verabschiedet hat, haben die ÖTV und die anderen Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes mit ihrer Forderung nach der 35-Stunden-Woche in der Öffentlichkeit und bei ihren Mitgliedern keinen leichten Stand. In der letzten Woche noch hatte der Präsident des Deutschen Städtetages, der sozialdemokratische Ober- bürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, eindringlich vor den Folgen einer Arbeitszeitverkürzung gewarnt, weil dies unweigerlich zu Gebührenerhöhungen und Abbau kommunaler Leistungen führe. Die von Finanzknappheit geplagten Städte seien nicht in der Lage, Arbeitszeitverkürzung durch Neueinstellungen aufzufangen. Einschnitte im Sportbereich, bei den Kindertagesstätten, der Kultur oder den sozialen Aufgaben seien denkbar, meinte der Parteigenosse der ÖTV-Chefin Wulf-Mathies. Und der SPD-Kronprinz Oskar Lafontaine, als saarländischer Minister präsident ebenfalls betroffener Arbeitgeber und Gebieter über einen chronisch defizitären Haushalt, sekundierte termingerecht mit seiner Aufforderung an die Tarifparteien, die vorhandene Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich umzuverteilen.

Davon mag die ÖTV nichts hören. Mit durchschnittlich rund 2.500 Mark brutto ist die Masse ihrer Mitglieder eher am Sockel der bundesdeutschen Einkommenspyramide angesiedelt. Der Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung ist für die Gewerkschaft also unverzichtbar. Ihre Forderung sieht lediglich eine Koppelung zwischen Arbeitszeitverkürzung und Einkommenszuwachs vor: Je kürzer die künftige Arbeitswoche, desto geringer die zusätzlichen Einkommensprozente, wobei der Arbeitszeitverkürzung Priorität eingeräumt wird.

Die Arbeitszeitverkürzung, so meint die ÖTV entlang einer schon 1984 während des Metallerstreiks von der IG Metall bemühten Faustregel, werde zur Hälfte durch Verdichtung der Arbeit aufgefangen, zur anderen Hälfte aber führe sie zu Neueinstellungen. Jede Stunde weniger, so die ÖTV, führe also zu rund 63.000 Neueinstellungen im Öffentlichen Dienst. Oder anders: Jene 1,3 Prozent Einkommenserhöhung, die die Arbeitgeber in der letzten Verhandlungsrunde bereits angeboten haben, kämen den Staat teurer als 1,5 Stunden Arbeitszeitverkürzung. Nach Berechnungen der Gewerkschaft würde eine 1,5stündige Verringerung der Wochenarbeitszeit die Personalkosten der Kommunen um 1,18, bei den Ländern um 1,06 und beim Bund um lediglich 0,6 Prozent steigen lassen. Insofern vermutet die ÖTV hinter der strikten Weigerung der Öffentlichen Arbeitgeber, überhaupt über Arbeitszeitverkürzung zu verhandeln, vor allem ideologische Motive. Bundesinnenminister Zimmermann gab dieser Vermutung indirekt Nahrung: Im Öffentlichen Dienst, so meinte er kürzlich vor Journalisten, sei die „Zeit noch nicht reif“ für Arbeitszeitverkürzung.

Ob die Zeit reif ist, wird sich nicht zuletzt an der Bereitschaft der Basis entscheiden, bundesweit für die gewerkschaftlichen Forderungen zu kämpfen. Am Mittwoch soll sich der Schwerpunkt der Aktionen nach Nordrhein-Westfalen verlagern, wo am Abend vorher eine 60 Kilometer lange Menschenschlange zwischen Duisburg und Dortmund den regionalen Protest gegen die Stahlkrise demonstrieren soll.

Die nächste Verhandlungsrunde ist am 29. Februar. ÖTV- Chefin Wulf-Mathies geht davon aus, daß die Arbeitgeber auf eine Schlichtung hinauswollen, die im Öffentlichen Dienst zwingend vorgeschrieben ist, bevor die Tarifparteien zu Kampfmaßnahmen greifen können.

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