Chirac will Härte demonstrieren

Der Hungerstreik der vier Action-Directe-Angeklagten wird zum Politikum  ■ Von
Georg Blume

Seit 86 Tagen dauert der Hungerstreik der vier „AD“-Gründer nun an, und endlich reagiert auch die linke Öffentlichkeit. Gestern veröffentlichte die französische Menschenrechtsliga einen „Appell der 151“, in dem Intellektuelle die Aufhebung der Isolationshaft und die Respektierung der Menschenrechte auch in französischen Knästen fordern. Doch für Premier Chirac ist der Hungerstreik eine willkommene Gelegenheit, Härte zu demonstrieren und die Sozialisten in Verlegenheit zu bringen.

Frankreichs Regierungschef Jacques Chirac und Jean-Marc Rouillan, Hauptangeklagter von Action Directe, werden mehr und mehr zu Gegnern im selben Spiel. Freilich mit unterschiedlichen Einsätzen. Während Chirac die Prozesse gegen Action Directe als dramatischen Effekt für seinen Präsidentschaftswahlkanpf ausschlachten will, geht es für Rouillan ums schiere Überleben.

Rouillan und mit ihm Nathalie Menigon, Georges Cipriani und Joelle Aubron – alle seit 86 Tagen im Hungerstreik – spielen mit dem menschlichen Höchsteinsatz. Niemand kann das mehr ignorieren. Schon gar nicht, wer in dieser Woche das Verfahren vor dem Pariser Sonderschwurgericht beobachtet. Dort liegt Rouillan, wie wenige Tage vor ihm Nathalie Menigon, auf der Anklagebank. Das Gesicht zerfallen und im gelblichen Teint. Die Kleider fallen an ihm herab. Erst scheint er bewußtlos, dann kreisen seine Augen wieder abwesend durch den Saal. „Ich kannte ihn gut“, sagt Thierry Fagart, sein alter Anwalt aus den Jahren 1979 bis 1985. „Jetzt erschreckt er mich. Sein Anblick erinnert mich an Bilder aus den Konzentrationslagern.“

Richtig ist: Rouillan will erschrecken. Die spontane Empörung, die sein Zustand auslösen muß, ist vielleicht seine letzte Chance. Denn vor ihm liegt ein unendliches Strafmaß. Die Isolationshaft aber ist für den Menschen endlich, relativ schnell sogar.

Für Jacques Chirac hingegen zählt vor allem, daß ein Hungerstreik noch schneller als die Isolation zum Ende führen kann. Nicht etwa, daß man Chirac humanitäre Sorgen unterstellen muß. Sein Kalkül ist kühl und brutal: Mit dem Schicksal der Hungerstreikenden will er den politischen Gegner, die Sozialisten, erpressen und den politischen Rivalen, Le Pen, im Zaum halten. Dazu braucht er Rouillan & Co. Sie dürfen sterben, aber nicht vor den Wahlen.

Chiracs Dramaturgie ist durchsichtig. Bisher dienten die Prozesse dazu, die Stimmung anzuheizen. Der letzte, entscheidende Akt soll erst kurz vor dem ersten Wahlgang inszeniert werden. Dann nämlich ist der Hauptprozeß gegen alle vier, Rouillan, Menigon, Cipriani und Aubron wegen des tödlichen Attentats an Renault-Chef Georges Besse, geplant. So lange müssen die Angeklagten durchhalten – und können dies mit der angewandten Infusionspraxis wahrscheinlich auch. Nachher ist dann alles egal. Selbst wenn sie vor Gericht krepierten, wäre dies für Chirac der willkommene Beweis für die in Frankreich plebiszitär eingeforderte staatliche Härte gegenüber den „Terroristen“. Was soll dann daneben ein Le Pen noch sagen? Die Todesstrafe wäre auch ohne neues Gesetz wieder eingeführt. Was aber vor allem sollen die Sozialisten sagen? Sie schwiegen schon 1982 still, als Action Directe noch keiner Fliege etwas zu Leide getan hatte, die Rechte aber bereits ihre Hetzkampagnen gegen die zuvor von Mitterrand begnadigten Rouillan und Menigon startete. „Wir bezahlen heute für den Traumatismus der Linken, den sie selbst hinsichtlich ihrer Bilanz in den Jahren 81/82 pflegt“, meint Maitre Fagart. In diesen Jahren versuchten die Sozialisten noch, ihre Versprechungen einzulösen. Heute warnt der Sprecher eines Sozialistenführers, der nicht genannt werden will: „Sie werden jetzt keinen Politiker finden, der sich unter dem moralischen oder philosophischen Gesichtspunkt zu dem Thema des Hungerstreiks äußern wird. Wir sind im Wahlkampf.“

Trotzdem: Für Sozialisten und Kommunisten wird ihr Verhalten in der Action-Directe-Frage auf Dauer ein Glaubwürdigkeitstest sein. Doch genau darauf legt es Chirac an. Nachdem der Hungerstreik in der veröffentlichten Meinung Frankreichs wochenlang keine Rolle spielte, protestiert nun auch die Mitterrand-nahe französische Menschenrechtsliga gegen die Isolationshaft. Das in Menschenrechtsfragen sensible sozialistische Wählerpotential droht sich an diesem Punkt zu spalten. Die Folgen für den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten sind nicht absehbar: Falls zu viele Wähler im ersten Wahlgang zu den Linksaußen-Kandidaten abwandern, könnte die sozialistische Wahlkampfdynamik entscheidend geschwächt werden.

Was die traditionelle französische Sensibilität in Menschenrechtsfragen anbelangt, mußte man sich bisher allerdings eher wundern, wie lange es dauerte, bis endllich einige Wächter der republikanischen Moral ihre Verantwortung auch für „Terroristen“ erkannten. Wer dann schließlich dennoch zur Feder griff und den Appell der Menschenrechtsliga an den Justizminister unterschrieb, hatte auch für viele französische Ohren keinen Namen, vielleicht abgesehen von Jean-Luc Godard und Henry Lefebvre.

Den Nichtunterzeichnern sei belassen: Konkreten Nutzen haben diese Appelle nicht. Selbst die Mediziner können reden, was sie wollen. Immerhin war es sogar die von Gerichts wegen eingesetzte Ärztin Odile Diamant-Berger, die behauptete, daß sich die Hungerstreikenden „der roten Zone nähern würden“, mit anderen Worten: sie bald nicht mehr genesungsfähig seien. Zumindest blieb es daraufhin schwer verständlich, wie man Rouillan und Menigon weiterhin für erscheinungsfähig vor Gericht erklären konnte.

Überhaupt fällt auf, wie im Spiel zwischen Chirac und Rouillan, je länger der Kampf währt, der Schiedsrichter immer mehr in den Hintergrund gerät. Der Schiedsrichter ist hier selbstverständlich das Gericht. Doch auf das eigens für „Terroristen“-Prozesse einberufene Sonderschwurgericht blickt niemand mehr. Es kann Urteile fällen, wie es will, Höchststrafen setzen oder Freisprüche verteilen, wie es erst vergangene Woche geschah. Eigentlich hätte nach diesen Freisprüchen eine rechte Propagandaschlacht beginnen müssen. Indes klagte niemand. Man hatte richtig bemerkt: Zwischen Chirac und Rouillan gibt es keinen Platz mehr für die Justiz, geschweige denn für Gerechtigkeit. Der eine hat alle Rechte in der Hand, der andere hat sie alle verspielt. Absurd: Das Spiel hat trotzdem erst begonnen.