Proteste in Armenien gehen heftig weiter

■ Militärpräsenz in Armenien verstärkt / Gorbatschow äußert sich erstmals öffentlich und ruft zur Besonnenheit auf

Moskau (dpa/afp) - Die seit acht Tagen andauernden Demonstrationen in der Sowjetrepublik Armenien wachsen sich immer mehr zu einem Testfall für den Spielraum von „Glasnost“ aus. Die Armenier verlangen einen Anschluß der Region Nagorno–Karabach, die mehrheitlich von Armenier bewohnt wird, und wo es in der Vergangenheit mehrfach Spannungen mit Aserbeidjanern gegeben hat. Wie ernst die Proteste in Moskau genommen werden, zeigt die Entsendung von vier ranghohen Parteimitgliedern in die Region. Die Proteste in der armenischen Hauptstadt Eriwan haben sich am Freitag anscheinend unvermindert heftig fortgesetzt. Nach Angaben des armenischen Nationalistenführers Airikian versammelten sich gestern in Eriwan 20.0000Menschen. Ein Augenzeuge berichtete telefonisch, daß das Zentrum der Stadt durch Menschenmassen verstopft sei, Versuche der Polizei, sie zu zerstreuen, seien ergebnislos geblieben. „Die Menschen sind ruhig, gut organisiert und verhalten sich friedlich, es gab weder Ausschreitungen noch Zusammenstöße“, versucht Eduard Aikazyan, Chef der armenischen Vertretung in Moskau, den Gerüchten über Zusammenstöße entgegenzuwirken. Während sich die aus Armenien bestehende Miliz offensichtlich zurückhält oder mit den Protesten sympathisiert, wurde das Militärin der Region verstärkt. „Es ist eine schwierige Situation, und die unterschiedlichsten Meinungen werden geäußert, doch niemand will sie davon abhalten“, sagte Aikazyan. Anzeichen sprechen dafür, daß die Demonstranten Rückhalt unter der politischen Führung Armeniens genießen. Beobachter halten das allerdings für reinen Opportunismus, weil die Parteispitze Armeniens, die in jüngster Zeit als korrupt, faul und inkompetent angegriffen worden ist, durch Unterstützung der Proteste wenig zu verlieren hat. In einer Ansprache, die vom armenischen Fernsehen und Rundfunk übertragen wurde, hat Gorbatschow gestern erstmals öffentlich zu den Protesten Stellung genommen. Er sprach sich für ein „vernünftiges Herangehen“ an die Frage der Revision der Grenze zur Nachbarrepublik Aserbeidjan aus. Nach Aussagen einer Sprecherin der Gesellschaft für bedrohte Völker befürchten die Armenier bei einer Niederlage eine Zunahme der Repressionen Aserbeidjans gegen die armenische Bevölkerung in Nagorno–Karabach. In den vergangenen Tagen gab es bereits Gerüchte über Kämpfe zwischen Armeniern und Aserbeidjanern, bei denen eine nicht bekannte Zahl von Menschen getötet worden sein soll.