Mit den Lohnkosten auf Du und Du
: Legendenbildung

■ Über die angeblich zu hohen bundesdeutschen Löhne

Wenn sich das Wirtschaftswachstum und die Investitonstätigkeit der Unternehmen verlangsamen, präsentieren viele Politiker und Unternehmer die immer gleiche Erklärung: Die bundesdeutschen Löhne sind zu hoch. In den vergangenen Wochen war diese Erklärung wieder oft zu hören. Daß jedoch Erklärungen nicht schon deshalb richtig sind, weil sie aus prominentem Munde stammen, zeigen die Statistiken: Danach stiegen die Lohnkosten der bundesdeutschen Unternehmen in den vergangenen Jahren im internationalen Vergleich mäßig, die Gewinne überdurchschnittlich. Der Hintergrund: Viele lassen sich durch die hohen bundesdeutschen Durchschnittslöhne blenden. Mit einem Monatsdurchschnitt von etwa 3.000 Mark brutto liegen die Arbeitnehmer hierzulande sicherlich mit an der Weltspitze. Über die Lohnkostenbelastung der Wirtschaft sagt diese Zahl noch nichts aus. Entscheidend für die Unternehmer ist, wieviel die Arbeitnehmer für ihren Lohn produzieren. Ist die Arbeitsproduktivität niedrig, müssen die Unternehmen diesen Nachteil im internationalen Wettbewerb durch niedrigere Löhne ausgleichen. Wie wichtig die Beziehung zwischen Arbeitsproduktivität und Lohnhöhe ist, das erfuhren die britischen Arbeitnehmer in den siebziger Jahren. Sie verdienten im Durchschnitt etwa die Hälfte der bundesdeutschen Kollegen. Dennoch konnte die britische Wirtschaft auf dem Weltmarkt nicht mithalten. Der Grund: Die gleiche Anzahl deutscher Arbeitnehmer produzierte mit wesentlich moderneren Maschinen in der gleichen Zeit doppelt so viele Waren wie ihre britischen Kollegen. Durch ihre hohe Produktivität lagen ihre Lohnkosten bezogen auf das Produktionsergebnis - die sogenannten Lohnstückkosten - unter dem britischen Vergleichswert. Ähnlich entwickelten sich die Lohnstückkosten in den vergangenen Jahren. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) stiegen sie von 1985 bis 1987 in der BRD langsamner als in allen anderen westlichen Industrieländern - die Niederlande und Japan ausgenommen. Zu alledem kommt noch hinzu, daß die Lohnkosten für die meisten Unternehmen, insbesondere für Großunternehmen, an Bedeutung verloren haben. Schuld daran ist die technologische Entwicklung, die die Kapitalkosten in die Höhe trieb und das Gewicht der Lohnkosten für die Gesamtproduktion verringerte. Für viele Produkte lohnt sich deshalb nicht einmal mehr die Verlagerung der Produktion in Billig–Lohn–Länder. Obwohl die Lohnkosten für kleinere und mittlere Unternehmen, insbesondere für arbeitsintensive Dienstleitungsbetriebe, Probleme aufwerfen können, gilt die These „zu hoher Löhne“ für die ganze bundesdeutsche Wirtschaft sicher nicht. Im Gegenteil. Für die Wissenschaftler des DIW steht fest, daß „die hervorragende Gewinnsituation der Unternehmen den Schluß nahelegt, daß vor allem die Unsicherheit bei den Absatzerwartungen die Unternehmen bei Investitionen zögern läßt“. Und diese Absatzerwartungen hängen nicht zuletzt von den Löhnen ab, mit denen die zukünftigen Waren und Dienstleistungen gekauft werden. Wolfgang Kessler