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Günter Sares Tod bleibt ungesühnt

■ Frankfurter Landgericht spricht Kommandant und Fahrer eines Wasserwerfers vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung Günter Sares frei / Proteste und Beifallskundgebungen bei der Urteilsverkündung / „Bild 22“ als Unschuldsbeweis bewertet / Nebenkläger kündigt Revision an

Aus Frankfurt Reinhard Mohr

Mit einem Freispruch „erster Klasse“ für beide Angeklagten endete gestern der Strafprozeß vor der 31.Großen Strafkammer des Frankfurter Landgerichts gegen zwei Polizeibeamte, denen die „fahrlässige Tötung“ des Demonstranten Günter Sare vorgeworfen wird. Die neunmonatige Verhandlung, so der Vorsitzende Richter Scheier in seiner zweistündigen Urteilsbegründung, habe keinen Beweis für fahrlässiges Verhalten des Kommandanten und des Fahrers jenes Wasserwerfers „WaWe 9“ erbracht, der den 36jährigen Günter Sare am Abend des 28.September 1985 überrollt und getötet hat. Unmittelbar nach dem Urteilsspruch erhob sich ein Sturm von Beifalls– und Mißfallenskundgebungen im überfüllten Publikumsraum. Während Polizeibeamte in Zivil, die die erste Reihe besetzt hatten, geschlossen Beifall klatschten, rief die Mehrzahl der Zuschauer „Günter Sare - das war Mord!“ Nachdem Richter Scheier die Sprechchöre auch mit dem Hinweis nicht beenden konnte, ein Gericht könne doch „kein Gefälligkeitsurteil“ fällen, zog er sich mit seinen Beisitzern und Schöffen zurück. Daraufhin verließen die Protestierenden, einer Räumung zuvorkommend, den Gerichtssaal und formierten sich zu einem kleinen Demonstrationszug hin zu dem Ort, wo Günter Sare vor zweieinhalb Jahren getötet wurde. Mutter und Schwester Sare, „Nebenklägerinnen“ im Strafprozeß, brachen in Tränen aus. Weinend sagte die Schwester, es gehe ihr nicht um Gefängnis oder Geldstrafe, sondern ums Prinzip: „Wie lange haben wir hier gesessen und gehofft, daß wir Recht bekommen.“ Nach 20minütiger Pause wurde die Verhandlung mit der mündlichen Urteilsbegründung fortgesetzt, die mit einer minutiösen Rekonstruktion des Geschehensablaufes vom Abend des 28.September85 begann. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar Seite 4 Damals war es nach Abschluß einer Kundgebung gegen eine NPD– Versammlung im Frankfurter Bürgerhaus „Gallus“ zu militanten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei gekommen. Die zentrale Frage für die Urteilsfindung lautete nach den Worten des Vorsitzenden Richters: „Was haben die Angeklagten gesehen, was hätten sie sehen können oder sehen müssen?“ Sehe man von der Möglichkeit ab, daß sie Sare gesehen haben und dennoch weitergefahren sind, was einer „vorsätzlichen Tötung“ gleichkäme, dann stellte sich für die Große Strafkammer, so Richter Scheier, die Frage des Nachweises, „daß die Angeklagten die tödliche Kollision hätten voraussehen müssen“ - mithin die Frage nach „fahrlässiger Tötung“. Um 20.53 Uhr hatte „WaWe 9“ auf mündlichen Befehl des Polizeiführers seinen Standort vor dem Bürgerhaus „Gallus“ verlassen und fuhr mit konstant 23km/h in die Hufnagelstraße hinein. An der Einmündung überrollte er Günter Sare. Das Foto eines Amateurfotografen, jenes berühmte „Bild 22“, zeigt eine einzelne männliche Person 2,7 Sekunden vor dem tödlichen Zusammentreffen, wie errechnet wurde - im Visier zweier Wasserfontänen. Eine stammte vom heranfahrenden „WaWe 9“. Augenzeugen hatten im Prozeß ausgesagt, die Person sei der kurz danach überfahrene Günter Sare gewesen. Diese Behauptung sah Richter Scheier als widerlegt an. Die fotogrammetrischen Gutachten hätten ergeben, daß keine Identität zwischen der Person auf „Bild 22“ und Günter Sare bestehe. Akribisch zitierte er die Aussagen der Augenzeugen, die sich hinsichtlich aller nur denkbaren Aspekte widersprochen hätten. So sei das Gericht auf „objektive Beweise“ - Unfallspuren, Fotos, Berechnungen - angewiesen, die ergeben hätten, daß Günter Sare etwa eine Sekunde vor dem Zusammenprall von rechts auf die Straße und gegen den Wasserwerfer gelaufen sei. Eine Verhinderung des „Unfalls“ sei den Angeklagten daher unmöglich gewesen. Auch die Frage, ob die Angeklagten Günter Sare bei gehöriger Sorgfalt früher hätten sehen müssen, verneinte Richter Scheier. Der Fahrer müsse nur die Straße im Auge behalten - Günter Sare aber sei vom Bürgersteig gekommen. Auch dem Kommandant sei kein Vorwurf zu machen. Im übrigen habe er weder seinen Ermessensspielraum überschritten noch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mißachtet. Auch die Erkenntnis einer besonderen Gefahrenlage mit einem außerordentlichen Einsatzrisiko sei nicht zwingend gewesen. Deshalb seien beide Angeklagte freizusprechen. In einer ersten Stellungnahme kündigte der Anwalt der Nebenklage, Borowsky, einen Revisionsantrag an und sagte: „Wer so mit zwei Wasserwerfern einen Demonstranten in die Zange nimmt und mit einem 24–Tonnen– Monstrum bei Dunkelheit drauflosfährt, der riskiert den Tod eines Menschen.“

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