„Da läuft was ab, was wir noch nicht kapieren...“

■ Die geplante Stillegung eines Zweigwerks des Staatskonzerns Italsider macht Neapels Metallarbeiter rebellisch / Zwischen Sicherung der Arbeitsplätze und Kampf gegen die Umweltvernichtung / Rätselraten um die Hintergründe

Aus Bagnoli Werner Raith

Das Geräusch steht der Sirene des benachbarten Dampfkessels nur wenig nach: Mit weithin hörbarem Keuchen knickt Marco Peccarelli nach unten, taucht wieder hoch, fünf, sechs Schritte, dann eine Art Urschrei und ein langgezogenes Ahhhh!, und hoch über den Köpfen der Demonstranten torkelt das Ei mit der Rauchfahne hinterher, schlägt genau dort ein, woher es gekommen ist - bei den Polizisten, die die Querstraße zur Via Bagnoli nuova blockieren und eifrig Tränengas herüberballern. „Wenigstens das klappt noch“, brummt Marco, aber auch das Keuchen verrät, daß er auch nicht mehr ganz der Alte ist: „Weißt du noch, 68, an der Uni...“ Für Nostalgie ist allerdings keine Zeit: Die helm– und schildbewehrten Polizisten gegenüber zeigen, daß sie den Durchmarsch der Metaller in Richtung Campi Flegrei verhindern müssen - dort nämlich sollen sich mehrere hundert Kollegen auf den Schienen des Vorortbahnhofs niedergelassen haben. Ziel: die Totalschließung des in Bagnoli, westlich von Neapel gelegenen Finsider– Werks, zu verhindern, einer Filiale des Staatskonzerns Italsider; mehrere hundert Entlassungen sind eben bekanntgeworden. Marco, Veteran der Studenten– und Arbeiterbewegung, seither werktätig in Bagnoli, gehört einerseits zu den wenigen Demo– Experten in der Gegend - „die wußten noch nicht einmal, wie man sich vor Tränengas schützt“; auf der anderen Seite ist er - neben seiner Mitgliedschaft in der örtlichen Kommunistischen Partei - militanter Umweltschützer und kämpft hier mit recht gespaltener Seele: „Der Betrieb und alles, was ringsrum hier Industrie heißt, ist der Pestofen der Gegend. Neapel ist umklammert von Giftschleudern, wie ihr sie euch in Deutschland nicht einmal im Traum vorstellen könnt - ohne Filter, ohne Entsorgung, ohne strukturelle Planung: wildgewachsenes 19. Jahrhundert.“ Die totale Zerstörung der Um welt - manchmal meint man wirklich: der Welt - ist hier in Bagnoli nicht zu übersehen: kein grüner Busch trotz des ansonsten herrschenden Frühlings, kein Gras, nur dürre, graue Zweige, die Blätter weißlich und zerfressen, die Häuser abgasgeschwärzt und zum Teil in erbärmlichem baulichen Zustand, selbst die sonst von den Industriemanagern beschönigend aufgelegte Fassade der industriellen Anlagen fehlt - Rostfraß, kaputte Fensterscheiben, rauchgeschwärzte Kamine. Und dann die Luft - auch nach drei Stunden Einatmen ist man noch nicht immun gegen den Gestank - Öl, Chemie, Brand, mitunter durchsetzt von Schwaden stinkenden Meereshauchs. „Insofern wäre die Schließung der Finsider überhaupt kein Unglück“, brummt Marco, auch wenn neben ihm der PCI–Sektionschef Antonio Caiazzo gleich gegenhält: „Und du meinst, die Schließung würde was bringen? Hier gibts ein halbes Hundert dieser Mordmaschinerien...“ Mehr als zwei Dutzend Tränengasgranaten explodieren gleichzeitig in der Menge, und Marco, neidlos als bester Werfer anerkannt, macht sich wieder an die „Rückgabe“ der Dinger; an die Demo–Ränder hat er vorsichtshalber vier erprobte Kollegen geschickt, die „nichts anderes zu tun haben, als auf die Bullen–Einsatzleitung zu gucken, ob die etwa die anderen Gewehre rausziehen“. Gefaßt ist man in Bagnoli auf alles, auch auf scharfe Schüsse. Mit den neapolitanischen Arbeitern hat sich die Regierung schon immer schwer getan: auch wenn sie weniger „schöne“ Demos inszenieren können als die Studenten in Rom oder Padua - wenns ans Eingemachte geht, verstehen die Südstaatler keinen Spaß. Als Anfang der achtziger Jahre Schlaumeier aus Rom die Industrie „effektiver“ machen und einige staatliche Werke verlagern und „modernisieren“ wollten, empfingen die Neapolitaner den Hubschrauber des sozialistischen Ministers für Staatsliegenschaften, Gianni de Michelis, mit einem derartigen Steinhagel, daß der eiligst wieder nach Rom abdrehte. Und als die Camorra voriges Jahr in die streikenden Arbeiter schoß, zogen deren Kollegen vor die Präfektur und drohten, dort alles kurz und klein zu hauen, wenn nicht bald Ruhe in der Stadt herrsche. Wahrscheinlich greift deshalb die Polizei, statt wie sonst meist zunächst abzuwarten, bereits seit den ersten Stunden der Proteste ein - „die waren so blitzschnell da“, sagt Emilio, „da gibts keinen Zweifel: Die haben schon geübt, seit sie wußten, daß es Entlassungen geben wird“. Emilio hat gestern eine schwere Beule von einem Stockschlag abbekommen - gerade deshalb aber läßt er es sich heute nicht nehmen, in vorderster Linie, als Held natürlich, mitzumarschieren: der einzige, der ohne Helm ankommt. Aus Rom - wo bereits am Tag vor den ersten Zusammenstößen eine Delegation vorgesprochen hatte - kommen derzeit nicht einmal Rauchzeichen; die Regierenden sind wie immer mit sich selbst beschäftigt, das Haushaltsgesetz ist noch nicht über die Bühne, der Regierungschef soll bald ausgewechselt werden, Streiks sind derzeit erträglich, Züge und Flüge weisen nur unerhebliche Einschränkungen auf - wen kümmert da das halbe Tausend Metaller im Süden. Doch sie sind auch nicht mehr so naiv wie früher - schon haben andere Arbeiterräte ihre Firmen abgeklopft und bemerkt, daß „da irgendwas im Busch ist, was wir noch nicht genau kapieren“: Trotz angeblich guter Auftragslage wird kurzgearbeitet, Reparaturen werden nicht durchgeführt, Rohstoffe fehlen. „Das Ganze macht nur Sinn“, überlegt Marco, „wenn es denen nicht um die Modernisierung der Fabriken ginge, sondern um die Plätze, auf denen die stehen.“ Der Eindruck verstärkt sich, als die Rom–Emissäre ihre Aufzeichnungen durchsehen: „Die wollen das Areal, weiter nichts.“ Doch was will man mit ein paar hundert Hektar an einem total zerstörten Meeresufer? Die Gerüchte brodeln - sucht nicht die NATO neue Plätze, weil die alten Kommandozentralen nicht mehr sicher erscheinen? Das freilich würde den Tod des ganzen heutigen Bagnoli bedeuten. High Tech? „Die plazieren sich doch lieber in stille Täler und schöne Berghänge“, weiß Antonio vom PCI. Also was? Das Rätselraten geht weiter. Die Tränengasgranaten fliegen auch weiter. Und für den 10. und 25.März ist für alle Metaller der Provinz Generalstreik angesagt.