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Die zweite wirtschaftspolitische Wende droht

■ Anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, Liquiditätsprobleme der Rentenversicherung, leere Staatskassen und drohende Neuverschuldung - ein Krisenszenario, das der Koalition Entscheidungen abverlangt / Aktuelle Querelen um Vorruhestandsregelung, die Quellensteuer und Steuerreform lassen große Konfrontation erwarten

Aus Bonn Oliver Tolmein

Wenn einer Opposition nichts mehr einfällt, weist sie pikiert auf die Zerstrittenheit des Gegners. So auch die SPD. Mit sturer Regelmäßigkeit fordert Fraktionschef Vogel die CDU/CSU zur Lösung ihrer Fraktionsgemeinschaft auf, läßt unerbittlich Koalitionszwistigkeiten auf die Bundestagstagsordnung setzen und behauptet routiniert, CDU und FDP könnten eigentlich überhaupt nicht miteinander regieren. Die Koalition streitet sich eben. Hoher Entscheidungsdruck In den Räumen der CDU–Fraktion ist von der routinierten Nachlässigkeit des „business as usual“ dagegen wenig zu spüren. Während im Konrad–Adenauer–Haus die Strategen in den vergangenen Wochen für die programmatischen Ideologiepapiere des nächsten Parteitages Argumente griffig gemacht haben, hat sich in den langen Fluren des Regierungs– und Bundestagsviertels viel Entscheidungsdruck angestaut. Es droht eine zweite wirtschaftspolitische Wende, analysieren Unionsleute aus dem Arbeitnehmerlager die Situation. Und daß es keine Wende zum Besseren wird, ist dem besorgten Ton der Gesprächspartner zu entnehmen. Das Krisenszenario, das sie malen, ist düster: angesichts einer Sockelarbeitslosigkeit, die um einige hunderttausend über dem Niveau von 1982 liegt, eines Defizits der Bundesanstalt für Arbeit bereits in diesem Jahr, kommender Liquiditätsprobleme der Rentenversicherung, leerer Staatkassen und durch die Steuerreform absehbar geminderter Staatseinnahmen wird die kommende Rezession der Regierungskoalition Grundsatzentscheidungen abfordern. Das Ausmaß der Misere und die Konsequenzen eventueller Lösungsversuche sind, das ist aus der CDU–Fraktion zu hören, den meisten Abgeordneten noch nicht bewußt. Das böse Erwachen wird im Mai oder Juni kommen, wenn der Nachtragshaushalt 1988 eingebracht werden wird. Die aktuellen Querelen um die Verlängerung des Vorruhestands, die Quellensteuer und Details der Steuerreform bereiten das Terrain für die erwartete große Konfrontation erst vor. Ihr Verlauf ist auch ein erstes Kräftemessen zwischen den Flügeln mit den divergierenden Interessen: auf der einen Seite stehen Norbert Blüm, Rita Süssmuth, Ulf Fink, die für öffentliche Investitionen und eine flexible Sozialpolitik eintreten, auf der anderen agieren die Freunde des Thatcher–Kurses Gerhard Stoltenberg, Ernst Albrecht, aber vor allem auch die FDP, deren wirtschaftspolitisches Gewicht nach ihren innenpolitischen Rückzugen um so schwerer in der Waagschale liegt. Imagepflege a la Geißler Eine herausgehobene Position kommt in den laufenden und kommenden Auseinandersetzungen vor allem dem CDU–Chef Kohl, aber auch Generalsekretär Geißler zu. Geißler sorgt sich vor den Landtagswahlen in Baden–Württemberg und Schleswig–Holstein um die Wahlergebnisse. Denn ihm ist - wie mittlerweile vielen CDU–ParlamentarierInnen - bewußt, daß der politische Effekt der Steuerreform bei den WählerInnen verpufft ist. Unter dem Strich wird offensichtlich so gut wie nichts übrig bleiben, nach einer Verbrauchssteuererhöhung bei den meisten eher was abgehen. Er weiß auch um die Notwendigkeit, das Image der CDU als Volkspartei von dem der wirtschaftsliberalen FDP zu unterscheiden. Für seine ideologische familienpolitische Offensive benötigt er außerdem Geld: sollte beispielsweise der Vorschlag durchgesetzt werden, die Abtreibung künftig nicht mehr aus Mitteln der Krankenversicherungen, sondern mit Bundes geldern zu finanzieren, geht das ebenso zu Lasten der Staatskasse wie die Erhöhung von Kindergeld und Erziehungsurlaub. Andererseits ist grenzenlose Flexibilität - einzelner Familien, der Tarifparteien, möglichst aller Arbeitsverträge - für den Generalsekretär schon seit längerem das Gebot der modernen Industriegesellschaft. Den Wegfall „bürokratischer Hemmnisse“ und die Neuorganisierung der Unternehmensbesteuerung zum „Abbau internationaler Wettbewerbsverzerrungen“ hat er deswegen in den programmatischen Diskussionsentwurf „Das christliche Menschenbild als Grundlage unserer Politik“ mitaufgenommen - allerdings auch ein Plädoyer für arbeitsplatzschaffende öffentliche Investitionen, wie sie den CDA vorschweben. Der Kanzler und Parteivorsitzende Kohl hat sich in den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen erstaunlich entscheidungsfreudig gezeigt - zuungunsten der Sozialausschüsse, die mit 40.000 nur so viele Mitglieder aufzuweisen haben wie die CDU– Mittelstandsvereinigung. Statt auszusitzen, hat Kohl Anfang des Jahres, als sich die geringe Höhe des Bundesbankgewinnes und das enorme Ausmaß der notwendig werdenden Neuverschuldung abzeichnete, seinen Finanzminister an die Öffentlichkeit geschickt - und damit die gesamte Fraktion brüskiert. Die erfuhren allesamt aus den Medien vom finanzpolitischen Einbruch des 1982 als Sparschwein der Nation angetretenen Stoltenberg. Knatsch rund um den Vorruhestand Und auch mit seiner in einem Koalitionsgespräch präsentierten Entscheidung, die Vorruhestandsregelung nicht zu verlängern, hat der Kanzler Unionspolitiker verprellt. Gleichzeitig schlug er sich deutlich auf die Seite der Wirtschaftsliberalen, denen die Vorruhestandsregelung noch nie richtig behagt hatte. Diese Entscheidungen, zusammen mit der Kritik des Kanzlers an den angeblich zu hohen Lohnnebenkosten, der zu kurzen Lebensarbeitszeit, der mangelnden Flexibilität der Arbeiter und ihren zu hohen Ansprüchen, signalisieren, welchen Kurs Kohl - wenn entschieden werden muß - einzuschlagen gewillt ist. Gerade die Entwicklung der Vorruhestandsdiskussion führen aber auch Leute aus den CDU–Sozialausschüssen an, um zu beweisen, „daß die CDA schon mal schwächer war“. In Zusammenarbeit mit den Strategen des Konrad–Adenauer–Hauses und gestützt von etlichen CDU–Bundesvorstandsmitgliedern ist es ihnen immerhin gelungen, die Sache, die Kohl bereits entschieden hatte, nochmal auf den Weg zu bringen. Daß dieser sich letzten Endes als Sackgasse entpuppt hat, an deren Ende alles mögliche stehen wird, aber eben keine Verlängerung der bisherigen Regelung, ist den 65 Abgeordneten, die auch zu den CDA gehören, dabei nicht das wichtigste. Für sie zählt, daß Kohl auf massiven Widerspruch gestoßen ist und einem Kompromiß zustimmen mußte. Das nächste Datum, das über Richtung und Tempo der weiteren Entwicklung Aufschluß geben wird, ist der 15. März. Dann soll die im Zuge der Auseinandersetzung um die Vorruhestandsregelung blitzschnell eingesetzte Arbeitsmarktkommission der Koalition einen Abschlußbericht vorlegen. Die Arbeitnehmer aus der Union hoffen, „daß er deutlich macht, daß die Union sich nicht mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit 1988 abfindet“. Ein Blick auf die Zusammensetzung der Kommission, in der Norbert Blüm und Rita Süssmuth, aber auch Martin Bangemann und Gerhard Stoltenberg sitzen, nährt allerdings eher Zweifel als Hoffnungen.

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