Dolchstoß oder Legende?

■ Die Tagung der SPD–Arbeitnehmer wurde für Oskar Lafontaine zum Spießrutenlaufen / Von Walter Jakobs

Der IG Metall–Vorsitzende Franz Steinkühler erntete minutenlangen Beifall, für den saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine erhob sich keine einzige Delegiertenstimme auf dem Kongreß der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AFA). Dessen Vorschlag - Arbeitszeitverkürzung gegen Lohnkürzung bei höheren Einkommen - wirke in den gegenwärtigen ÖTV–Verhandlungen „fast wie ein Dolch im Rücken“, mahnte Steinkühler.

So etwas hat es bei der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AFA) noch nicht gegeben. So schlimm wie die gewöhnlich eher behäbigen AFA–Gewerkschafter ist in der SPD noch niemand über den saarländischen Ministerpräsidenten hergefallen. Die sonst „schweigende Mehrheit“ der Partei gab Laut, und zwar unüberhörbar. Das begann schon bei seinem Einzug in die Halle. Während bei der Nennung des Namens von Franz Steinkühler der Saal mit frenetischem Applaus und „Bravo“– Rufen reagierte, fiel die Hallentemperatur mit Lafontaine unter Null, und als nach der Lafontaine– Rede der IG Metall–Vorsitzende Franz Steinkühler mit einer schar fen Replik die Schwächen der Lafontaine–Argumentation offenlegte, wollte der Beifall im Saal gar nicht mehr enden. Bitterkeit, Unverständnis und Enttäuschung über den einstigen Hoffnungsträger der SPD prägten die Beiträge der Delegierten. Mit dieser schon fast an eine parteiinterne „Rebellion“ heranreichenden Reaktion hatte Lafontaine wohl selbst nicht gerechnet. Ursprünglich wollte er schon nach zwei Stunden wieder weg, aber die Delegierten ließen ihn nicht gehen. Eine Begebenheit am Rande: Als der Partei–Vize vor den Türen ein Interview gibt, unterbrechen die Delegierten die Versammlung und fordern seine sofortige Rückkehr in den Saal. Und Lafontaine kommt. Die SPD, so hatte der Saarländer eingangs gesagt, könne weder die internationale Wirtschaft wesentlich beeinflussen, noch in absehbarer Zeit den „Sozialabbau“ der Kohl–Regierung rückgängig machen. Diese Tatsache enthebe die Partei aber nicht von der „Pflicht zur Solidarität mit den Arbeitslosen“. Wenn nach einem Raubüberfall, so Lafontaine bildhaft, „der größte Teil des Proviants weg ist, ist man gleichwohl verpflichtet, den verbleibenden Rest mit den Weggefährten zu teilen“. Ein Bild, das viele anschließend gegen Lafontaine wandten. Es gehe darum, so ein Delegierter aus Baden–Württemberg, „die Räuber zu fangen, sie zur Rechenschaft zu ziehen und nicht unter ihnen nach zukünftigen Koalitionspartnern zu suchen“. Nur, so Franz Steinkühler, die Bestohlenen seien in den Tarifauseinandersetzungen nicht stark genug, um den entscheidenden Erfolg gegen „die Räuber“ erreichen zu können. In diesem Kampf würden die Lafontaine–Äußerungen „fast wie ein Dolch im Rücken wirken“. Ausführlich zitierte Steinkühler aus einer Arbeitgeberzeitung von 1930, wo den Gewerkschaften vorgehalten wird, sie forderten „rücksichtslos höhere Löhne auf Kosten der Arbeitslosen“. Lafontaines Äußerung, „wer die Kosten der Arbeit bestimmt, bestimmt auch darüber mit, wieviele Arbeitnehmer beschäftigt werden“, laufe in die gleiche Richtung und sei ein altes, falsches Arbeitgeberargument. Zusätzliche Arbeit schaffe man durch Umverteilung zugunsten der Arbeitnehmer, denn die Unternehmer verwendeten einen Großteil ihrer Milliarden für Finanzanlagen im Ausland. Hans–Jochen Vogel hatte am Samstag ähnlich argumentiert und die so verschwundene Summe mit 50 Mrd. DM beziffert. Vielleicht, so Steinkühler weiter, könne man darüber nachdenken, ob es zumutbar sei, daß Lehrer zugunsten von arbeitslosen Lehrern auf ein Teil ihres Einkommens verzichteten, aber in der gewerblichen Wirtschaft habe die Gewerkschaft auf die oberen Gehaltsgruppen überhaupt keinen Einfluß. Steinkühler wörtlich: „Kann sich jemand vorstellen, wieviel an Machtverschiebung in dieser Gesellschaft erst einmal durchgesetzt werden müßte, bevor wir die Arbeitgeber zwingen könnten, sich vertraglich zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu verpflichten?“ Diese Verpflichtung hatte schon Ernst Breit zu Anfang des Kongresses angesprochen: „Wenn sich die Arbeitgeber darauf verpflichten würden, bei einer fünfprozentigen Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich für Besserverdienende fünf Prozent mehr Arbeitsplätze zu schaffen, wären die Gewerkschaften sofort dabei.“ Daß dieser Beitrag schon als Schwenk in Richtung Lafontaine gewertet wurde, ist bestenfalls der ungenauen Übermittlung zuzuschreiben, tatsächlich war die Breit–Äußerung nichts weiter als blanker Hohn. Daß die so eingesparte Lohnsumme auch nicht nur im entferntesten an die Kosten für die Schaffung von etwa 1,3 Millionen neuen Stellen (das wären 5 Prozent der Beschäftigten) heranreicht, weiß natürlich auch Breit - und die Delegierten, die ihm Beifall zollten.