Mehrheitsstrategie

■ Lafontaines Provokation ist gezielt

Für wie naiv hält der SPD–Vorsitzende Hans Jochen Vogel eigentlich seinen Stellvertreter Oskar Lafontaine? Zwar räumt er inzwischen die Berechtigung für die Diskussion um Arbeitszeitverkürzung und Lohnausgleich ein. Aber daß Lafontaine sie ausgerechnet während der laufenden Tarifrunde im Öffentlichen Dienst angezettelt hat, nennt er ein „unglückliches Zusammentreffen“. Lafontaine soll also nicht bewußt kalkuliert haben, in welchen politischen und zeitlichen Kontext er die Kontroverse mit den Gewerkschaften stellt? Da mutet der SPD–Chef der interessierten Öffentlichkeit und seinem Stellvertreter doch wohl ein bißchen zuviel Blauäugigkeit zu. In Wirklichkeit konnte es für Lafontaine überhaupt keinen günstigeren Zeitpunkt als die jetzt anlaufende Tarifrunde geben, um sich in den Mittelpunkt einer gesellschaftspolitischen Debatte zu manövrieren, in der es um nicht mehr und nicht weniger als einen Neuentwurf von Sozialstaatlichkeit geht. Die Thesen des saarländischen Ministerpräsidenten gewinnen ihre Brisanz gerade nicht wegen ihres Inhalts. Die Forderung, bei höheren Einkommensgruppen auf den Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung zu verzichten, ist nun wahrlich nicht sonderlich originell. Seit Jahren steht sie bei den Sozialdemokraten und bei den Grünen im Programm. Die Gewerkschaften führen selbst seit langen Jahren eine Diskussion darüber, ob nicht eine unterschiedliche Behandlung von niedrigen und hohen Einkommensgruppen notwendig wäre, um der mit jedem linearen Tarifabschluß wachsenden Ungleichheit entgegenzuwirken. Die medial gezielte Provokation der Gewerkschaften zum Bezugspunkt der gesellschaftspolitischen Debatte zu machen. Erst durch die Distanz zu traditioneller Gewerkschaftspolitik gewinnt der sozialdemokratische Kanzleraspirant die politische Manövrierfähigkeit, die mittel– oder langfristig aus dem Minderheitenghetto der Opposition herausführen kann. Eine Sozialdemokratie, die ihr gesellschaftspolitisches Programm von den Gewerkschaften schreiben läßt, ist letztlich weder mehrheits– noch koalitionsfähig. Lafontaine zielt also auf eine Öffnung der Partei - wobei er bewußt keine Antwort auf die Frage gibt, wohin diese Öffnung gehen soll. Die Berührungspunkte zur entsprechenden Diskussion bei den Grünen (z.B. Grundrente) sind ebenso offensichtlich wie zum reformerischen Flügel innerhalb der Union (Aufwertung von Nichterwerbstätigkeit/Kritik an der Sozialstaatsbürokratie) oder gar zur FDP (Notwendigkeit des Marktes). So zielt Lafontaines Intervention in die laufende Tarifrunde weit über diese Auseinandersetzung hinaus. Sie setzt die ureigenste Klientel der Sozialdemokratie, die Gewerkschaften, unter einen programmatischen Modernisierungsdruck, um die Manövrierfähigkeit der Sozialdemokratie zu erweitern und den Spielraum für eine mehrheitsfähige innenpolitische hat. Martin Kempe