Einstündiger Warnstreik in Armenien

■ Untersuchung der Ausschreitungen in Sumgait / Gorbatschow beklagt mangelnde „internationalistische Erziehung“ / Drastische Zunahme der Ressentiments gegen Moskau / Sergeij Grigorjanz: „Eine erdrückend kurzsichtige Politik droht das Land in ein Blutbad zu stürzen.“

Moskau (dpa/rtr) - Aus Protest gegen die schweren Übergriffe gegen die armenische Bevölkerung hat in der armenischen Hauptstadt Eriwan die Bevölkerung am Freitag die Arbeit für eine Stunde niedergelegt. Damit sollte außerdem der Forderung nach einer Untersuchung der Übergriffe auf die armenische Bevölkerung in der aserbeidschanischen Stadt Sumgait vor zwei Wochen Nachdruck verliehen werden. Nachdem es bisher geheißen hatte, es solle ein dreitägiger Generalstreik durchgeführt werden, haben sich damit zunächst offenbar gemäßigtere Kräfte durchgesetzt. Die Armenier fordern die Eingliederung Nagorny Karabachs ub die Sowjetrepublik Armenien. Das autonome Gebiet, in dem 8o Prozent der Bevölkerung Armenier sind, liegt in der Republik Aserbeidschan. Als Moskau diese Forderung ablehnte, kam es Mitte Februar insbesondere in Eriwan zu großen Protestdemonstrationen. Inzwischen hat das Politbüro laut der sowjetischen Nachrich tenagentur TASS eine Untersuchung der Probleme von Nagorny Karabach und der Ursachen der Unruhen eingeleitet. In Sumgait ist mittlerweile eine Spezialeinheit der Polizei eingetroffen, die die Ausschreitungen gegen Armenier untersuchen soll, bei denen nach offiziellen Angaben 32 Menschen getötet wurden. Nach den Berichten von Augenzeugen, die bei einer Trauerveranstaltung in Moskau gräßliche Einzelheiten der Ausschreitungen schilderten, liegt die Zahl der Opfer vermutlich um ein Vielfaches höher. An einem Trauermarsch für die Opfer von Sumgait hatten sich am Dienstag nach Angaben armenischer Oppositioneller 700.000 Menschen beteiligt. In Moskau meinte der Herausgeber der inoffiziellen Informationsschrift Glasnost, Sergeij Grigorjanz, vor Journalisten, daß die Ausschreitungen durch den Straßen– Mob und die Politik der Behörden heraufbeschworen worden seien. Er sprach von einer „erdrückend kurzsichtigen“ Politik, die mit dem „Provozieren von nationalen Zwistigkeiten“ drohe, „das Land in ein Blutbad zu stürzen“. Die gegen Moskau gerichtete Stimmung habe „drastisch zugenommen“. Auf dem Höhepunkt der Unruhen in Armenien hatte Moskau erste Zugeständnisse gemacht. So werden die armenischen Schulen in Nagorny Karabah dem armenischen Bildungsministerium unterstellt und das armenische Fernsehen in das autonome Gebiet ausgestrahlt. Vor dem Zentralkomitee der Partei richtete Generalsekretär Gorbatschow aber gleichzeitig die Forderung an die Parteiführungen Aserbeidschans und Armeniens, die „internationalistische Erziehung“ zu verbessern. Die internationale Geschlossenheit der Völker in der Sowjetunion dürfe nicht von den komplizierten Nationalitäten–Beziehungen beeinträchtig werden. Westliche Beobachter in Moskau sehen darin einen Hinweis, daß Gorbatschow die Forderungen nach einem Anschluß Nagorny–Karabachs an Armenien ablehnt.