Sowjetunion: Genossenschaftsgesetz in Vorbereizung

■ Allein in Moskau gibt es schon 1.000 Kooperativen / Marode Staatsbetriebe sollen über Konkurrenz mit Genossenschaften „frisch gemacht“ werden

Aus Moskau Alice Meyer

In der UdSSR wird eine Organisationsform der Wirtschaft wiederbelebt, die, zumindest außerhalb des Agrarsektors mit seinen Kolchosen, Jahrzehnte hindurch überhaupt keine Rolle mehr gespielt hatte: die Genossenschaft. Anfang März legte nun die Moskauer Führung einen Gesetzentwurf „über das Genossenschaftswesen in der UdSSR“ vor. Eine umfassende gesetzliche Regelung der Rechtsformen und der Wirtschaftstätigkeit von Genossenschaftsbetrieben wird wegen des schnellen Anwachsens der Zahl entsprechender Kleinunternehmen als längst überfällig angesehen. Allein in der sowjetischen Hauptstadt - so klärte der 1. Stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees des Moskauer Stadt–Sowjets Juirj Luschkow seine Bürger im Lokalblatt Moskau am Abend auf - gab es Anfang März 1988 bereits „mehr als 1.000“ Genossenschaften. Mehr als 700 Kooperativen sollen 1987 gegründet worden sein. Die meisten Genossenschaftsbetriebe gibt es in Moskau im Dienstleistungsbereich - von Altglassammeln bis hin zu Rechtsberatungsunternehmen - sowie im Gaststättenwesen. Revisionisten am Werk? Im Gesetzentwurf wird gleich Eingangs auf die „Leninschen Ideen über die Genossenschaft“ verwiesen. Und wirklich: Auf den Altmeister der Revolution und seine Schriften können sich nicht nur die Anhänger einer hochzentralisierten Kommandowirtschaft mit Großstrukturen und bis ins kleinste durchorganisierter Arbeitsteilung berufen, sondern auch die Verfechter der Genossenschaft als eines freiwilligen Zusammenschlusses von Produzenten und Konsumenten. Aber in einem wichtigen Punkt - und darauf wird im Gesetzentwurf nicht hingewiesen - sind die Moskauer Gesetzgeber eindeutig Revisionisten: Die Genossenschaften als nichtstaatliche Wirtschaftssubjekte sollen künftig auch Außenhandel treiben dürfen: Waren und Dienstleistungen, die international konkurrenzfähig sind, können exportiert und die Valuta–Erlöse für Importe verwendet werden. Den Genossenschaften wird sogar das Recht zuerkannt, mit westlichen Partnern (und zwar nicht nur Kooperativen, sondern auch durch und durch kapitalistischen Firmen) gemeinsame Betriebe in der UdSSR oder im Ausland zu gründen. Für Lenin sowie für ganze Generationen sowjetischer Wirtschaftstheoretiker, -planer und -politiker war dagegen das „Außenwirtschaftsmo nopol des sozialistischen Staates“ ein Dogma, an dem nicht gerührt werden durfte. Nach Verabschiedung des Genossenschaftsgesetzes durch den Obersten Sowjet Mitte oder Ende 1988 sind die Tage des staatlichen Außenhandelsmonopols in der Sowjetunion gezählt. Kein Wirtschaftsbereich bleibt verschont West Berliner Computer–Fans könnten sich dann in Moskau mit etwas Kapital und viel know–how zum Beispiel in einer Kooperative engagieren, die Software und Service für aus dem Westen importierte Personalcomputer anbietet. Die in Zusammenarbeit mit sowjetischen Wissenschaftlern und Spezialisten entwickelte Software könnte dann sogar im Westen vermarktet werden. Was sind die wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs? Genossenschaften können künftig in der Landwirtschaft (dort in der Regel als Kolchose), in Industrie, Handwerk und Bauwirtschaft, im Transportsektor, in Handel und Gaststättenwesen, im Dienstleistungsbereich und anderen Wirtschaftszweigen sowie auf sozio– kulturellem Gebiet gegründet werden - also praktisch überall dort, wo nicht einschlägige Gesetze und/oder die „sozialistische Moral“ einen Gewerbebetrieb überhaupt verbieten. Die Mitgliederzahl muß mindestens drei natürliche Personen betragen. „Kollektive Mitglieder“ können darüber hinaus auch andere Genossenschaften, Staatsbetriebe und „gesellschaftliche Organisationen“ sein. Genossenschaften sind als juri stische Personen rechtsfähige Unternehmen und bilanzieren selbständig. Ihre Gründung bedarf keiner besonderen Genehmigung durch ein Staats– oder Wirtschaftsorgan (Privatarbeit im Rahmen des Gesetzes über „Individuelle Arbeitstätigkeit“ ist dagegen genehmigungspflichtig). Die Gründung gilt als vollzogen mit der Registrierung des Statuts der Genossenschaft beim zuständigen lokalen oder regionalen Rat der Volksdeputierten (Sowjet). Das Statut, das von einer Versammlung der Gründungsmitglieder angenommen wird, regelt die Tätigkeit der Genossenschaft. Höchstes Leitungsorgan ist die Mitgliederversammlung, die Wahl eines Vorsitzenden - und im Falle größerer Genossenschaften auch eines Vorstands - ist möglich. Sowjetbürger, die im Rahmen von Arbeitsverträgen in der Kooperative beschäftigt sind, haben in der Mitgliederversammlung beratende Stimme. Die Mitgliederversammlung verabschiedet die Wirtschaftspläne und beschließt über die Verwendung der Erträge beziehungsweise die Verteilung des Gesamteinkommens. Rubel–Millionäre sind nichts Anstößiges Das Geldeinkommen eines Genossenschaftsmitglieds unterliegt keinerlei Beschränkungen nach oben (bei einem linearen Einkommenstarif von 13 Prozent können legal Millionen verdient werden). Nicht nur die persönlichen Einkommen der Mitglieder und Beschäftigten, sondern auch das Bruttoeinkommen (der Gewinn) der Genossenschaft unterliegen der direkten Besteuerung. Produktionsgenossenschaften sind auf der Grundlage der „vollen wirtschaftlichen Rechnungsführung“ (Chosrastschot) und Selbstfinanzierung tätig. Ständig defizitäre Betriebe stehen im Widerspruch zum Gesetz. Mit einem Anflug von Hilflosigkeit rufen sowjetische Wirtschaftsfunktionäre dazu auf: „Bewahren wir die Kooperativen vor Übereinkommen, die ihnen mehr Schaden als Nutzen bringen und die öffentliche Meinung schockieren.“ Mit dem Ziel der „Mobilisierung freier Geldmittel“ bei Genossenschaftsmitgliedern und -beschäftigten, aber auch bei Dritten (zum Beispiel Staatsbetrieben und -organisationen) als zusätzlicher Finanzierungsquelle für Investitionen können Genossenschaften Aktien emittieren (schon jetzt zeichnet sich ab, daß auch Staatsunternehmen künftig als Aktiengesellschaften firmieren dürfen und damit in der Sowjetunion ein richtiger Kapitalmarkt mit Wertpapierbörsen usw. entsteht). Auf „streng freiwilliger Grundlage“ können sich Genossenschaften zu Verbänden (Vereinigungen) nach Tätigkeitsmerkmalen und/oder territorialen Gesichtspunkten zusammenschließen. Im Gesetzentwurf wird die Kooperative als Subjekt des Wirtschaftsrechts dem Staatsunternehmen ausdrücklich gleichgestellt. Staats– und Genossenschaftssektor der Wirtschaft sollen „gleichberechtigt zusammenwirken“.