Verhaftungen lassen Ungarns Opposition kalt

■ Über 10.000 Demonstranten forderten am Dienstag demokratische Reformen / Polizei griff nicht ein / Verhaftete Oppositionelle wieder frei

Von Erich Rathfelder

„Um fünf Uhr früh wurden sie aus den Betten geholt, aber nach zehn Uhr abends endlich wieder freigelassen“, informierte gestern ein Budapester Oppositioneller die taz über das Schicksal des Schriftstellers Miklos Haraszti, des Untergrund–Verlegers Gabor Demszky, der Direktorin der Hilfsorganisation für Arme SZETA, Ottilia Solt, des Direktors der Avantgarde–Künstlerverbandes „Inconnu“, Tomas Molnar und fünf weiterer Personen, die, wie gestern berichtet, im Vorfeld der nun schon jährlich stattfindenden Demonstration zum 15. März von der Polizei „aus dem Verkehr“ gezogen worden waren. „Doch mit diesen alten Mitteln, die Köpfe zu verhaften und dann zu hoffen, die Demonstranten einzuschüchtern, ist heute in Ungarn keine Aktion mehr zu verhindern.“ Über Zehntausend Menschen, vor allem Studenten und Schüler, formierten sich denn auch vor der Statue des Poeten Sandor Petöfi, um der demokratischen Revolution von 1848 zu gedenken, die in einem Aufstand gegen das Habsburgerregime mündete und schließlich mit Hilfe des russischen Zaren niedergeschlagen wurde. Waren die Demonstrationen der Vorjahre mit weit weniger Teilnehmern zum Teil noch von der Polizei gestört worden, bezogen die Ordnungskräfte in diesem Jahr nur noch Beobachtungsposten. Von dort aus konnten sie hören, wie der Philosoph Gaspar Miklos Tamas an die revolutionären Traditionen des Landes erinnerte: „1848, 1918 und 1956 haben wir versucht, die Ziele der Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit sowie einen Platz in der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen zu erreichen. Wir sind immer noch weit von diesen Zielen entfernt“. Ohne den 75jährigen Parteichef Janos Kadar namentlich zu nennen, forderte er diejenigen Führer des Landes auf, die das Vertrauen des Volkes verloren haben, zurückzutreten. Auf Transparenten verlangten die Demonstranten Versammlungsfreiheit und „Echte Reformen“. „Ja, die Demonstration war ein Erfolg“, erklärte der Informant, doch sei es nicht gelungen, die von der bisherigen Krisenentwicklung Betroffenen, die neuen Armen und die Arbeiter, zum Mitmachen zu motivieren. „Es blieb bei dem im marxistischen Sprachgebrauch so ausgedrückten bürgerlich–demokratischen Charakter der Demonstration.“ Der friedliche Charakter sei auch gewahrt geblieben, weil die Parteiführung die Polizei offensichtlich zur Zurückhaltung aufgefordert habe, um keine neuen innenpolitischen Auseinandersetzungen zu riskieren.