Soziale Basis

■ Trotz der größten Demonstration seit 1956 hält der Damm in Ungarn

Der ungarischen Führung Reformwilligkeit abzusprechen, wäre ungerecht. Nach Kräften bemühen sich Reformer in der Partei, im Staate und den Verbänden um eine Auflockerung der politischen Landschaft. Daß die Abstimmungen im Parlament nicht mehr einstimmig verlaufen, daß ökologische und andere gesellschaftliche Probleme öffentlich diskutiert werden können und sich manche Funktionsträger sogar mit Oppositionellen treffen, ist dafür durchaus bezeichnend. Die Presse ist freier als anderswo im Lager der sozialistischen Staaten, jeder hat inzwischen das Recht, ins westliche Ausland zu reisen. Kritische Anmerkungen in den Betrieben und den gesellschaftlichen Institutionen werden nicht nur geduldet, sondern sind sogar erwünscht. Herausgekommen ist aber nur ein reformerischer Fleckerlteppich. Ein Gesamtkonzept gibt es nicht. Trotz aller wohltönenden Worte werden die politischen Entscheidungen noch immer ohne den direkten Einfluß der Gesellschaft getroffen. Es ist eine paternalistische Reform, die alles in Frage stellt, bis auf die Macht der eigenen Herrschaft. Die Regierenden scheuen dabei nicht einmal das Risiko, das aus der tiefen Wirtschaftskrise entpringt. Während nämlich die jetzt schon benachteiligten Bevölkerungsschichten buchstäblich am Hungertuch nagen, dagegen aber Schieber, Neukapitalisten und Entscheidungsträger sich goldene Nase verdienen, hoffen sie weiter auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ und ihren Machterhalt. Diese „Hungaronomics“ sollen nur der Bevölkerung versüßt und für sie akzeptabel gemacht werden, ohne die Tabus der Herrschaft in Frage zu stellen. Auch die demokratische Opposition bestreitet nicht die Notwendigkeit der Wirtschaftsreform. Sie verlangt aber die umfassende Beteiligung der Bevölkerung bei den grundlegenden gesellschaftlichen Entscheidungen. Und indem manche den wachsenden Unmut der Verlierer der Reform, den der Alten, der staatsabhängig Beschäftigten und Kinderreichen, zu artikulieren beginnen, stoßen sie an die Empfindlichkeiten und Härten des Systems. Daß gerade diejenigen am vergangenen Dienstag verhaftet wurden, die sich nicht aus der sozialen Verantwortung gegenüber der gesamten Gesellschaft stehlen und soziale Forderungen mit den politischen verbinden, mag anderen Oppositionellen zu denken geben. Die größte Demonstration nach 1956 konnte zwar die Krisenopfer noch nicht mobilisieren und blieb lediglich auf Jugendliche und Altoppositionelle beschränkt, doch die politische Orientierung von Teilen der Opposition beginnt an der Legitimation des Einparteiensystems zu rütteln. Erich Rathfelder